Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
diesem Morgen.
Voller Ehrfurcht und zärtlicher Liebe ruhte ihr Blick auf dem Vater, der sie noch nicht bemerkt zu haben schien. Die Hände auf den Rücken des purpurroten Übergewandes gelegt, schritt er in Gedanken versunken auf dem Holzboden der bendjle auf und ab. Ein Bein zog er dabei leicht nach; eine Kugel steckte so tief im Fleisch, dass kein Wundarzt sie hatte herausholen können. Der fortwährende Schmerz, den ihm diese verursachte, stellte eine bleibende Erinnerung aneine jener Schlachten dar, die er in jungen Jahren geschlagen hatte, um sein Reich vor Eindringlingen zu bewahren und seine Herrschaft gegen Rebellen zu schützen. Solange Salima zurückdenken konnte, kannte sie ihn nur mit weißem Bart, doch nichts an ihm wirkte alt oder gar gebrechlich. Groß von Statur, hatte er sich die Spannkraft eines Kriegers bewahrt und strahlte mit jedem Zoll Würde und Macht aus. Sein längliches Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen und der vornehm gebogenen Nase unter dem rot-gelb gestreiften Turban verriet seine edle Abkunft, und die honigfarbene Haut war noch jugendlich prall. In den großen dunklen Augen standen Güte und Warmherzigkeit; nur wer genau hinsah, konnte die Schatten der Müdigkeit und Anstrengung darunter erkennen.
Als Sultan trug er eine große Bürde, das hatte Djilfidan ihrer Tochter einmal erklärt. Nicht nur, dass er die größten Plantagen auf der Insel besaß, knapp fünfzig an der Zahl, und eigenen Handel trieb; er kümmerte sich darum, dass Güter aus Afrika über Sansibar in die Welt hinaus geschickt wurden und andere Waren von dort zurückkamen, wofür er Zölle eintreiben ließ. Kontakte mit Vertretern fremder Länder mussten gepflegt werden, mit den indischen, arabischen und afrikanischen Händlern der Insel und mit Stammesoberhäuptern vom Kontinent. Galt es, einen Urteilsspruch zu fällen, der zu wichtig war für einen kadi , einen einfachen Richter, oder für einen wali , einen Statthalter des Sultans, saß der Vater selbst zu Gericht. Sayyid Sa’id sorgte für Recht und Ordnung, Frieden und Wohlstand, und das nicht allein in seinen Palästen und Häusern, nicht allein für seine Hauptfrau und die vielen sarari , für die zahlreichen Kinder im Oman und auf Sansibar, von denen Salima viele gar nicht kannte, einige auch nicht mehr kennenlernen würde, weil sie schon gestorben waren, und manche nie anders gesehen hatte als vollständig ergraut.Nein, das Gedeihen der gesamten Insel und des dazugehörigen Stückchens Afrika ruhte in seinen Händen. Ebenso wie die Geschicke des Oman, wenn dort auch sein drittältester Sohn Thuwaini als wali des Vaters tätig war.
Zudem war das Sultanat von Muscat und Oman im Südosten der Arabischen Halbinsel ständig von den Persern bedroht. Wie schon zu Zeiten Ahmad ibn Sa’ids, der vor hundert Jahren die Dynastie der Al Bu Sa’id gründete, die Sultan Sayyid Sa’id zur höchsten Blüte geführt hatte und an deren Stammbaum Salima ein noch so junger Trieb war. Dennoch hatte der Vater für jeden Bittsteller ein offenes Ohr, für jeden, der den Rat oder den Segen des Herrschers benötigte, für arme Verwandte, die eigens aus dem Oman anreisten, um den reichen Vetter um Geld zu bitten. Und er war sich auch nicht zu fein, sich allein auf einem seiner Pferde auf die Hochzeit eines besonders verdienten Sklaven zu begeben, um dem frisch getrauten Paar seine Glückwünsche auszusprechen.
»Aguz« , rief er verblüfft aus, als er seine kleine Tochter wahrnahm. »Guten Morgen! Was machst du denn schon so früh hier?«
Aguz , »Alte«, das war sein Kosename für Salima, weil sie bis heute eine Vorliebe für die Suppe aus Milch, Reismehl, Zucker und Vanille besaß, die sonst nur Säuglinge als Beikost zur Muttermilch bekamen – und zahnlose Greise.
»Guten Morgen«, piepste Salima und fügte die offizielle Anrede hinzu: » Hbabi , Herr.« Sie strahlte ihren Vater an und zerknüllte mit vor Aufregung schweißfeuchten Fingern die Seitennähte ihres dünnen mangogelben Obergewandes, das sie über den orangeroten Beinkleidern trug.
»Na, komm schon her zu mir.« Mit der leicht geöffneten rechten Hand winkte er sie freundlich zu sich heran. Salima lief hüpfend auf ihren Vater zu, blieb dann aber verunsichert auf halbem Wege stehen, als sich seine schlohweißenAugenbrauen über der Nasenwurzel zusammenzogen. »Wie läufst du denn herum?!«
Ratlos sah Salima an sich herunter. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, waren ihre Füße, die bis über den Spann
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