Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
da.«
Auf Rosas Flüstern hin richteten sich alle Augen auf einen zerknitterten, altersgebeugten Greis, knorrig wie die Luftwurzeln der Mangroven, der im Mtoni stand, Wasser aus dem Flüsschen schöpfte und sich wusch.
»Er bereitet sich auf das Gebet vor«, erklärte Emily ihren Kindern leise. »Eines der fünf täglichen Gebete, die Pflicht sind im Islam.«
Wie ich ihn darum beneide, geborgen in seinem Glauben zu sein.
Als sie näher kamen, bemerkte Emily an den tastenden Bewegungen des Mannes, dass er blind sein musste. Seit sie hier auf Sansibar war, hatte sie es meist ihrem Gegenüber überlassen zu grüßen. In diesem Falle jedoch wäre es unhöflich gewesen, den alten Mann nicht zu grüßen, auch wenn es wiederum den Sitten widersprach, dass sie als Christin ihn beidieser heiligen Handlung störte. Dessen ungeachtet trat sie zu ihm hin.
»Ich wünsche Euch einen guten Abend, Väterchen.«
Der Greis horchte auf, hob sein zerfurchtes Gesicht mit den milchigen Augäpfeln an und streckte die Hand nach Emily aus, die ihm verwundert ihre Rechte gab. Worauf er diese an den Mund führte und schließlich an sein Gesicht drückte. Verlegen blickte Emily ihre Kinder an, die nicht wussten, ob sie sich das Lachen verbeißen oder ob sie ihre Mutter vor dieser Zudringlichkeit beschützen sollten.
»So ist sie also zurückgekommen«, ließ sich der alte Mann schließlich mit krächzender Stimme vernehmen. »Die kleine Salima bint Sa’id.«
»Ihr kennt mich?« Emily war verblüfft.
»Natürlich«, erwiderte der Blinde mit einem Nicken. »Ich habe Euch als kleines Mädchen oft auf den Knien geschaukelt. Sofern Ihr nicht gleich wieder davongesprungen seid. Stillsitzen konntet Ihr nämlich nie für lange Zeit.«
Emily lachte. »Das ist wohl wahr! Verzeiht jedoch, ich erinnere mich nicht an Euch.«
Der Greis winkte ab. »Damals wart Ihr wahrhaftig noch sehr klein. Musiker am Hof Eures Vaters war ich einst. Bis ich mein Augenlicht verlor. Seither rufe ich die Menschen von Mtoni zum Gebet. Die kleine Salima«, fügte er schmunzelnd hinzu, »die ist wie das Meer, hab ich immer gesagt. Keinen Tag gleich und doch immer dieselbe, überall und nirgends zu Hause. Allah beschütze und behüte Euch!«
»Allah sei auch mit Euch«, bedankte sich Emily.
Überall und nirgends zu Hause. Welch weise Worte.
Als sie zum Strand hinuntergingen, fiel Emilys Blick auf die Ruine, die einst die Gemächer ihres Vaters beherbergt hatte. Auf eine Nische, in der er zu beten pflegte. Ein Stück abgesprengtes Steinfries lag darin. Emily hob es auf, strich zärtlichmit den Fingerkuppen darüber und steckte es ein, bückte sich im Weitergehen, um ein paar Grashalme und Blätter abzuzupfen, bevor sie mit ihren Kindern wieder in das Boot stieg, das sie zurück in die Stadt brachte.
mit den Fingerkuppen darüber und steckte es ein, bückte sich im Weitergehen, um ein paar Grashalme und Blätter abzuzupfen, bevor sie mit ihren Kindern wieder in das Boot stieg, das sie zurück in die Stadt brachte.
Zwei Tage später traf aus Berlin ein Telegramm ein: Emily Ruete solle Sansibar unverzüglich verlassen. Alle erbitterten Argumente, alles Bitten und Flehen half nichts. Als Bürgerin des Kaiserreichs war sie verpflichtet, dieser Anweisung Folge zu leisten. Emily musste packen und den Dampfer zurück nach Deutschland nehmen.
Wie eine Statue stand sie an der Reling, klammerte sich mit Blicken an die Küste Sansibars, die sich viel zu schnell entfernte, immer kleiner wurde, schließlich hinter dem Horizont verschwand.
Kwa heri, Sansibar, auf Wiedersehen. Ich komme wieder . Ich muss noch einmal wiederkommen.
Ich muss ganz einfach.
Heimatlos
Ein Leben, das den Tod erwartet, ist kein Leben.
SPRICHWORT AUS SANSIBAR
64
Sansibar, 14. Mai 1888
Rosa trat zu ihrer Mutter an die Reling, deren Blicke gebannt der sonnenbeschienenen Küste folgten, die an ihnen vorüberzog: Die dichten Palmenwälder und die meerbespülten hellen Sandstrände; die kleinen Buchten, in denen Fischerboote auf dem Trockenen lagen und schwarz-weiße Vogelschwärme sich sammelten.
»Dieses Mal geht bestimmt alles gut aus«, sagte Rosa behutsam.
Emily schwieg. Ihr Mund spannte sich an, und ein halb spöttischer, halb bitterer Zug zeigte sich in ihren Zügen. Die Linien, die das Leben ihr ins Gesicht geritzt hatte und zu denen kaum merklich immer neue hinzukamen, vertieften sich. So wie die Silberfäden in ihrem dunklen Haar immer mehr wurden. Dreiundvierzig war Emily jetzt und erneut
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