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Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne

Titel: Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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die gesamte Fläche überwucherte.
    Die Stallungen gab es nicht mehr, und auch von den anderen leicht gebauten Lagerhäusern war nichts mehr zu sehen. Überall standen eingekerbte und verwitterte Mauerreste, lagen Steinbrocken umher, die geborstenen Überbleibsel von dem Holz, das früher in Mtoni verbaut worden war. Emily wanderte um verdorrte Baumstrünke herum, stieg über umgestürzte Stämme hinweg, bis sie gewahr wurde, wo sie sich genau befand.
    Die Orangenbäume … Das waren die Orangenbäume, in denen wir uns immer vor unserer strengen Lehrerin versteckt haben. Kein einziger steht mehr. Kein einziger.
    Die Badehäuser, die immer belebt, immer voller Stimmen und Gelächter gewesen waren, hüllten sich in Schweigen. Gerippe nur noch, ohne Dach, ohne Fensterrahmen und ohne Türen, die Mauern angefressen vom Zahn der Zeit. Emilys Knie gaben nach, und sie ließ sich auf einen der umgekippten Baumstämme sinken, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.
    Beweinte all die Toten. All die Jahre, die vergangen und ihr wie Wasser durch die Finger geronnen waren. Betrauerte die Vergänglichkeit alles Seins, der auch sie unterworfen war und die sie mit jedem Jahr deutlicher spürte. Beklagte all die jugendliche Kraft und Zuversicht, die sie einmal besessen hatte, und das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Das jeden neuen Tag überglücklich begrüßt hatte, behütet und geborgen in ihrer kleinen Welt. Das von der Fremde geträumt und in seiner Unschuld noch nicht gewusst hatte, was das Leben für sie bereithalten würde. Ein kleines Mädchen, von dem Emily nicht glauben konnte, dass sie es einst wahrhaftig gewesen war.
    »Mama, was hast du?« Tony war als Erste bei ihr, hockte sich neben sie und schloss sie tröstend in die Arme.
    »So schlimm?« Rosa ging vor ihr in die Knie und sah ihr erschrocken ins Gesicht.
    »Nimm meins«, sagte Said mitfühlend und hielt ihr sein Taschentuch hin, als Emily fahrig nach dem ihren zu suchen begann.
    »Danke.« Emily schnäuzte sich und wischte sich mit der Hand über die nassen Wangen. »Es ist nur – nur so traurig. Nichts steht mehr von Mtoni. Es ist alles … untergegangen.«
    Wie meine Kindheit. Wie meine Jugend. Wie alles, wovon ich geträumt, was ich mir erhofft hatte.
    »Dort steht noch ein großes Gebäude«, widersprach Said und zeigte mit ausgestrecktem Arm hinüber.
    »Das … Das ist das Haupthaus«, schniefte Emily und tupfte sich mit dem Tuch die Nase. »Dort befand sich die Küche, und nebenan lag der Flügel, in dem oben die Frauengemächer untergebracht waren. Wo ich geboren worden bin und wo ich gelebt habe.«
    »Zeigst du’s uns? Zeigst du uns, wo dein Zimmer war?«
    Emily nickte und ließ sich von ihren Kindern aufhelfen. Einen Arm um jede Tochter gelegt, Said neben ihnen einherschlendernd, überquerten sie den Hof, traten unter einem nackten Türsturz ein.
    »Dort hinten lebten Metle und Ralub mit ihrer Mutter«, flüsterte Emily in der Halle. »Sie war gelähmt, deshalb wohnten sie im unteren Stockwerk. Sonst waren dort nur Lagerräume. Es roch immer muffig und feucht hier, und als Kind habe ich mich immer ein bisschen gefürchtet.«
    Keine Metle mehr. Kein Ralub.
    »Und da oben«, sie deutete die Treppe hinauf, die von grünen Schlingpflanzen fast vollständig erstickt wurde, »da oben waren die Gemächer meiner Mutter und der anderen Frauen meines Vaters. Und da habe ich auch geschlafen.«
    »Gehen wir hinauf ?« Fragend sah Said sie an, eine Hand schon am Treppengeländer.
    »Besser nicht.« Emily lächelte. »Als ich klein war, ist hierschon einmal das Treppengeländer eingestürzt. Holz wird in der Luft Sansibars sehr schnell morsch. Wer weiß, wie baufällig das Haus im oberen Stockwerk inzwischen ist.«
    »Ich kann mir das gar nicht vorstellen«, sagte Tony, den Arm um die Taille ihrer Mutter geschlungen. »Ein Mann und so viele Frauen. Das muss doch ein fürchterliches Durcheinander gewesen sein!«
    Emily lachte leise. »Damals nahm ich das als selbstverständlich hin, eine Mutter zu haben und viele Stiefmütter. Ich kannte es ja nicht anders.«
    »Trotzdem«, mischte sich Rosa ein. »Hättest du Vater teilen wollen? Mit einer oder gar hundert anderen Frauen?«
    »Niemals!«, protestierte Emily sogleich, worauf alle in Lachen ausbrachen, und es war das erste Mal, dass Emily an Heinrich dachte, ohne dass es ihr die Kehle zuschnürte.
    Das hohe Gras raschelte unter ihren Füßen, als sie langsam zurück zum Strand gingen.
    »Seht mal,

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