Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
wieder zusammen.«
Emily ließ ihren Blick noch einmal über die Stadt schweifen und horchte in sich hinein.
Jeder Ort ist gut genug für mich. Ich suche nichts anderes als Ruhe und Frieden.
Die Stimmen der Muezzin waren verklungen. Nun begannen in der Stadt Kirchenglocken zu läuten, und ein Lächeln umspielte Emilys Lippen.
Ein bisschen etwas von meinen beiden Welten.
Dass Khalifa, der Sultan von Sansibar, vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie nur am Rande wahrgenommen. Ebenso, dass Reichskanzler Bismarck zurückgetreten war und Großbritannien und das Deutsche Reich lange um einzelne Gebiete in Afrika verhandelt hatten. Und dass sie sich schließlich einigen konnten. Und während die Insel Helgoland wieder deutscher Besitz wurde, erhielt die Britische Krone Sansibar als Protektorat.
Emily kümmerte das nicht mehr; ihr Sansibar war lange zuvor untergegangen.
Mit fast achtundvierzig war Emily noch zu jung, um auf den Tod zu warten. Wenn sie auch keine große Ansprüche mehr an das Leben hatte.
Beirut war ein guter Ort zum Leben. Eine freundliche, eine lebendige Stadt. Voll von Menschen, die ohne Wurzeln waren wie sie, die hier angespült wurden und geblieben waren. Ein guter Platz, um zu lesen, zu schreiben und zu unterrichten. Und vielleicht doch noch eine richtige Christin zu werden.
Die Fragen ihrer Töchter noch im Ohr, nickte sie schließlich.
Beirut würde nie eine Heimat sein für sie. Aber ein Ort, an dem sie vielleicht endlich zur Ruhe kommen könnte.
Zumindest einige Zeit lang.
Ankunft
Jena, März 1924
Fern der Heimat steh ich hier,
fern von jenen, die ich lieb’,
jene, die am nächsten mir,
von meinem Blut und meinem Schlag.
Wie schwach ich bin,
dass ich mich sorg und um sie bang’,
wo Allah doch ewig über sie wacht.
Warum dann diese Furcht!
Solang wir leben,
mögen wir uns wiederseh’n; sollt’ das nicht sein:
Wer noch am Leben,
den Toten gänzlich Fremder ist.
ABU-L-’ATAHIYA
Drückende Stille lag über dem Haus. Die schwere Stille der Trauer um einen geliebten Menschen.
»Was muss sie gelitten haben.« Rosas Stimme war dick von all den Tränen, die sie seit gestern geweint hatte. Das feuchte, zerknüllte Taschentuch in der Hand, wies sie auf die beschriebenen Bogen, die ausgebreitet vor ihr lagen: die Aufzeichnungen ihrer Mutter, die ihre Erlebnisse und Erfahrungen festhielten, all ihre Gedanken und Gefühle in der Fremde, die Zeit von ihrer Reise durchs Rote Meer an Heinrichs Seite bis zu ihrem Umzug von Dresden nach Berlin umspannend. Briefe, an eine unbestimmte Freundin in der alten Heimat Sansibar gerichtet, und doch mehr eine Erzählung, beinah ein Tagebuch. Von deren Existenz ihre Kinder nichts geahnt hatten, bis zum heutigen Nachmittag, und deren bewegende Lektüre ihnen noch mehr Tränen entlockt hatte.
»Vaters Tod muss für sie eine Katastrophe gewesen sein«, sagte Tony. »Als hätte sie mit ihm ihren sicheren Anker verloren.«
Nachdenklich griff sie zu dem Stapel alter Photographien, der sich unter den Sachen ihrer Mutter befunden hatte. Emily in einem dunklen Kleid mit weiten Röcken auf einem Stuhl sitzend, die Hände locker im Schoß gefaltet, den Blickwehmütig in die Ferne gerichtet. Heinrich im Anzug, die Linke auf eine Balustrade im Studio des Photographen gestützt, die halb von einem bodenlangen Vorhang verdeckt wurde. Emily in sansibarischer Tracht, mal sitzend, mal stehend, mal im Portrait.
»Schaut mal, wie erschrocken sie auf manchen Bildern dreinschaut.« Ein zärtliches, flatteriges Lächeln huschte über Tonys Lippen, als sie den steifen Karton umdrehte. »Da muss sie gerade ein knappes Jahr hier in Deutschland gewesen sein.«
»Hier – du und Tony.« Rosa hielt ihrem Bruder eine Photographie hin, auf der Emily und Heinrich dasaßen, Emily mit einem zerbrechlich wirkenden Jungen auf dem Knie, Heinrich mit einer pausbäckigen Tony auf dem Schoß.
Said, der vom Senat der Stadt Hamburg die Erlaubnis erhalten hatte, den Familiennamen seines Großvaters dem seines Vaters hinzuzufügen, und der dafür seinen Taufnamen ablegte und sich nach seinem Vater nun Rudolph Said-Ruete nannte, schmunzelte.
»Kennt ihr den hier?« Er hob das Bildnis eines Mannes gut sichtbar für seine Schwestern hoch. »Das ist die Uniform eines englischen Kapitäns.«
Einen Augenblick schwiegen sie alle drei, und jeder wusste, was der andere dachte: Das muss der Kapitän sein, auf dessen Schiff sie von Sansibar floh.
Fast zwölf Jahre hatte Emily Ruete in Beirut gelebt,
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