Sterne über Sansibar - Vosseler, N: Sterne über Sansibar - Die diamantene Zisterne
einen Menschen, geschweige denn für ein kräftiges Araberpferd, und das niedrige Geäst bedeutete eine große Gefahr für einen schnellen Reiter.
»Versuchs doch«, gab Salima über die Schulter leichthin zurück, drückte ihre Waden in die Flanken des Pferdes, und gleich darauf jagten die beiden Halbwüchsigen mit Geschrei auf ihren Rössern durch das Unterholz, durch Laubdickicht, das ihnen ins Gesicht peitschte.
»Wart nur, jetzt krieg ich dich!«, brüllte Hamdan, als der Pfad in hüfthohem Gras verschwand und das Dickicht in locker verstreute Palmen zerfaserte.
Salima lachte nur und trieb ihre Stute weiter an, durch die shambas , die Plantagen, hindurch, auf einen breiten Weg zu: die Straße, die von Mtoni herkam und in die Stadt führte. Seite an Seite donnerten sie über die platt gerittene, festgetretene Erde,unbekümmert darum, dass die Hufe ihrer Pferde aus manch tiefer Pfütze schmutzigbraunes Wasser aufspritzen ließen.
»Erster«, keuchte Salima und zügelte ihr Pferd, als sie dicht vor den ersten Häusern der Stadt angelangt waren, unmittelbar neben einem einzelnen mächtigen Baum. In die dicke Rinde waren Nägel geschlagen, so hoch, wie ein Mensch hinauflangen konnte, um böse Geister dort festzunageln und von den Ansiedelungen fernzuhalten. Bananen und eine Handvoll Eier lagen zwischen den Wurzeln. Ein kleiner Tontopf zum Abbrennen von Räucherwerk stand daneben, und in Rissen im Stamm stecken kleine Zettelchen oder aufgefädelte bunte Tonperlen. Alles Teil eines mächtigen Zaubers, um Unheil abzuwenden.
Mit einem atemlosen, triumphierenden Lächeln führte Salima ihren schnaubenden Rappstute im Schritt um den auf der Stelle tänzelnden Braunen herum, bereit, sich mit Hamdan darum zu streiten, wer von ihnen nun als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war.
»Salima«, schnaufte Hamdan mit unvermitteltem Ernst und deutete auf seine erhitzten Wangen.
Salima verstand und brachte ihr Pferd zum Stehen. Aus dem quer umgehängten Lederbeutel, in dem sie ihre Patronen verwahrte, holte sie ein schwarzes Stoffknäuel hervor, in dem es metallisch aufblitzte. Sie zerrte ungeduldig daran, bis sie es entwirrt hatte und wieder über den Kopf streifen konnte: zwei miteinander verbundene Streifen von schwerer, glänzender Atlasseide, mit Bordüren aus geklöppelter Silberspitze besetzt, von denen der obere die Stirn, der untere Nasenrücken und Wangenknochen verdeckte, Augen, Nasenspitze und Mund und Kinn aber frei ließ. Die daran befestigten Ketten wand sich Salima mehrmals um den Kopf, damit die Maske, die sie seit ihrem neunten Lebensjahr außerhalb des Hauses trug, nicht verrutschte. Danach zog sie die schele aus dem Beutel,ein großflächiges Tuch aus schwarzer Seide, das es in verschiedenen Qualitäten von hauchfein bis dick und steif gab, ebenfalls mit Spitzen aus Gold- und Silberfäden geschmückt, und breitete es über Scheitel und Schultern, von wo es bis auf ihre Knöchel in den langen Hosen hinunterfloss. Damit ihr die schele beim Reiten nicht davonflog, warf sie einen Zipfel in einer koketten Bewegung über die eine Schulter und rollte die Augen, worauf Hamdan lachte und sie ihren Weg fortsetzten.
In gemächlichem Schritt ritten sie durch das Viertel der Stadt, das am weitesten vom Hafen entfernt lag – die Lehmstadt. So genannt, weil die niedrigen aneinandergedrängten Hütten, deren Dächer aus Palmblättern bestanden, aus Flechtwerk und getrocknetem Lehm gebaut waren. Ausgemergelte Frauen in zerschlissenen, zu faden Pastelltönen ausgeblichenen Wickelröcken kochten vor den Hütten Reis. Nackte Kinder, bei denen man die Rippen zählen konnte, warteten mit riesigen Augen im spitzen Gesicht schon sehnsüchtig darauf. Und die Kühe, die stumpfsinnig herumstanden, sahen nicht so aus, als könnte ihr knochiger Leib auch nur einen Tropfen Milch hervorbringen. Besser genährte Männer, die dunkle Haut in der Sonne glänzend, saßen in Gruppen zusammen und kauten Betel.
Hier in der Lehmstadt war auch bei genauem Hinsehen nicht zu unterscheiden, wer sich seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht als Lastenträger und Handlanger im Hafen verdiente, wer Sklave eines Plantagenbesitzers oder Händlers war, der nicht gut für seine Leute sorgte, oder wer einfach keine Lust hatte, einen Finger zu rühren, obwohl es drüben in der Steinstadt reichlich Arbeit gab. Jedes Mal, wenn Salima hier war, durchzog sie eine Mischung aus Wut und Mitleid, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit, die sie schaudern
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