Sternenfaust - 092 - Widerstand
auf einen leeren Stuhl des Wartezimmers.
»Natürlich.« Nadine Misantrev setzte sich.
Soweit ging ja alles glatt , dachte sie. Jetzt kommt der schwierige Part.
Die blonde Frau ließ ihren Blick über die wartenden Patienten schweifen, doch niemand beachtete sie weiter. Jeder war in sein Datenpad oder in leise Unterhaltungen mit dem Sitznachbarn vertieft.
Und selbst wenn jemand etwas sieht, so wird man sich erst im Nachhinein daran erinnern können, dass möglicherweise ich es war , beruhigte sich Nadine Misantrev in Gedanken. Sie überlegte kurz, ob sie auch noch nach Überwachungskameras Ausschau halten sollte. Nein, das wäre ebenfalls nicht nötig. Nicht für das, was noch kommen sollte.
»Dann mal los!«, murmelte die Frau, deren Name weder Nicole Misantrev war, noch hatte sie ein Problem mit ihrer genetischen Anpassung. Sie war ein ganz normaler Mensch, ohne dass jemand jemals etwas an ihrem Erbgut geändert hatte. Die geröteten Pupillen und die gereizte Haut waren nur Maskerade.
Sie hatte Freunde, wegen denen sie hier war. Freunde, deren Leben davon geprägt war, mit Genoptimierungen zu leben, die sie auf das Abstellgleis dieser perfiden Gesellschaftsordnung gebracht hatten. Einer Gesellschaft, in der jeder jederzeit durch bessere und neuere Modelle ersetzt werden konnte. Das konnte nicht länger so weitergehen. Deshalb tat sie, was getan werden musste.
Mit einem unauffälligen Tippen der Fersen an die Innenseiten ihrer Schuhe löste sie eine magnetische Halterung, die die Absätze bis jetzt an der Sohle gehalten hatten. Vorsichtig löste sie mit den Fersen und den Zehenspitzen die beiden massiven Klötze von den Schuhen und versuchte sie still und unauffällig weit nach hinten unter den Stuhl zu schieben.
Die Nebengeräusche in dem Raum, das leise Flüstern und Brummen der Klimaanlage oder anderer elektronischer Geräte, überlagerte das leise Kratzen über den Boden.
Geschafft! Die beiden kleinen Kästen lagen tief im Schatten an der Wand unter der Sitzfläche.
Die Frau entspannte sich kurz und streckte die Beine von sich. Ihr beschleunigter Herzschlag passte nicht zu dieser Geste. Am liebsten wäre sie davongerannt, wie ein in Panik geratenes Tier. Ruhig, ganz ruhig. Du hast genug Zeit , ermahnte sie sich innerlich. Du darfst dir nichts anmerken lassen.
Betont langsam stand sie auf und schlenderte zum Empfangstresen herüber. Die Sprechstundenhilfe, die gerade ein paar Krankenakten aktualisierte, sah sie an. »Es dauert noch einen kleinen Augenblick, Miss Misantrev.«
»Ich weiß«, entschuldigte sich die Blondine. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas anderes in diesem Gebäude zu erledigen habe. Bis zum Termin ist es noch eine knappe Viertelstunde und was ich noch machen möchte, dauert höchstens zehn Minuten. Ich bin gleich wieder zurück und nehme den Termin wahr. Falls ich eher drankommen sollte, können Sie ja einen anderen Patienten vorziehen, ginge das?«
Die Arzthelferin nickte verständnisvoll. »Gehen Sie nur. Ich regle das, und Ihr Termin verfällt auch nicht, wenn Sie nur kurz rausgehen und etwas erledigen. Ich sehe Sie dann später.«
»Vielen Dank.« Die blonde Frau klopfte zum Abschied einmal kurz auf den Tresen und wandte sich dann zum Gehen. Alles klar! Das war es! , freute sie sich.
Als sie gerade nach der Türklinke zum Flur greifen wollte, hörte sie hinter sich eine Stimme. »Miss?«
Augenblicklich verkrampfte sie. Nein! Das kann nicht sein. Niemand hat es doch gesehen! Schweiß brach ihr aus allen Poren und die ausgestreckte Hand, die sie zurückgezogen und an ihren Oberschenkel gelegt hatte, begann kaum merklich zu zittern. Bitte, lieber Gott, lass es das nicht gewesen sein!
»Nicole Misantrev« drehte sich um und blickte nervös in den Raum.
»Ich glaube, Sie haben da etwas vergessen!«, sagte die Patientin, die ihr schon beim Betreten des Wartezimmers aufgefallen war. Die Frau mit dem abfälligen Blick. Sie deutete auf den Stuhl neben jenem, auf dem die blonde Frau zuvor gesessen hatte. Dort lag ihr Gewand, dass sie getragen hatte, als sie angekommen war.
Die Blondine atmete auf. Die zurückgelassenen Absätze hatte niemand bemerkt. »Oh, ja, vielen Dank!«, stammelte sie, nahm das Kleidungsstück an sich und wandte sich zum Gehen. Was für eine Nachsichtigkeit! , schalt sie sich. So etwas kann dich Kopf und Kragen kosten!
Kaum auf dem Flur, beschleunigten sich ihre Schritte. Noch im Laufen streifte sie sich ihr Gewand über. Das schwarze Tuch
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