Sternenfaust - 101 - Der Weltraumfriedhof (2 of 2)
überhaupt? Vielleicht hatten Finch und sie ihr Leben – ihrer aller Leben, korrigierte sie sich in Gedanken – auch für ein vollkommen unnützes Stück Hardware riskiert. Vielleicht waren die Daten nicht lesbar und würden irdische Forscher Jahrzehnte beschäftigen. Ja, vielleicht war das schwere, kalte Gerät auf ihrer Brust auch gar kein Bestandteil des Computers. Sondern … irgendwas eben. Unnützer, unwichtiger Kram.
Nein, das durfte nicht sein! Enie schrie frustriert auf, und merkte es selbst nicht. Schweiß lief ihr ins Auge und nahm ihr für einen Moment die Sicht. Dennoch lief sie weiter. Immer, immer weiter. Unter ihrem Helm konnte sie sich nicht die Augen reiben, also blinzelte sie mehrmals, um wieder klar sehen zu können.
Plötzlich blieb sie mit ihrem rechten Stiefel irgendwo hängen. Der unerwartete Widerstand raubte ihr das Gleichgewicht und brachte sie zu Fall. Enie stürzte vornüber, hilflos und orientierungslos. Hart prallte sie auf den Boden des Korridors auf und begrub ihre Arme, die noch immer den Kasten gehalten hatten, unter sich. Das schwere Gerät trieb ihr die Luft aus den Lungen, sodass ihr schwarz vor Augen wurde. Sie merkte gar nicht mehr, wie ihre Handschuhe sich von dem Kasten lösten und er ihr aus den Händen glitt.
Herumliegende Trümmerstücke ritzten ihren Raumanzug auf. Steh auf! , schrie Mutters Stimme in ihrem Kopf panisch, aber bestimmt. Steh auf, du kannst jetzt nicht liegen bleiben. Du musst weiter! Weiter zum Shuttle!
Enie ignorierte sie, wie sie die echte Silvie van Houten schon vor Jahren zu ignorieren gelernt hatte – diese verrückte alte Dame aus Amsterdam, die in ihrem großen, prunkvollen Haus saß wie die Spinne in ihrem Netz. Silvie, die Gehorsam verlangte und ihr, Enie, eine ganze Kindheit lang eingebleut hatte, auf ihre Worte zu hören, ihrem Willen und ihren verqueren Ansichten zu entsprechen. Silvie, die seit Jahren an irgendeiner Krankheit starb, welche Enie – die neue, erwachsene Enie – nicht im Geringsten interessierte.
Nein, Enie blieb liegen. Sie hatte sich nicht mühevoll freigeschwommen, um jetzt, wenige Augenblicke vor ihrem sicheren Tod noch auf die Befehle ihrer verhassten Mutter zu hören. Es war vorbei, und innerlich war sie sogar dankbar dafür.
Mutter schwieg.
Schweiß tropfte Enie von der Stirn und auf die Innenseite des Sichtfensters in ihrem Helm. Ihr Atem ging stoßweise und zauberte weiße Kondenswölkchen auf die Scheibe und über die Tropfen. Wölkchen, die mit jedem neuen Atemzug kamen und gingen, kamen und gingen.
Enie sah ihnen zu und lachte. Lachte, wie sie in ihrem ganzen, verwirkten Leben noch nicht gelacht hatte. Sie lachte und wartete darauf, dass die irgendwo hinter ihr unerbittlich heranbrausende Feuersbrunst ihre Füße erreichte, dann ihre Beine verzehrte, ihren Unterleib …
»Lieutenaaaaant!!«
Die Stimme erklang in ihrem Helm, nicht in ihrem Kopf. Schrill und besorgt. Und plötzlich knallte ein riesiges Gewicht auf ihren Rücken, begrub sie unter sich und presste ihren Leib erneut gegen ihre Arme. Enie schrie vor Schreck und Schmerz. Staub und kleinere Bröckchen des Deckenmaterials prasselten vor ihrem Helm auf den Boden.
Dann spürte Enie eine Hand an ihrer Hüfte, tastend, suchend. »Lieutenant, hören Sie mich?«, fragte eine keuchende Stimme. Die Hand ließ von ihr ab und stützte sich auf den Boden neben ihr. Irgendetwas drückte so hart in ihre Kniekehlen, dass sie abermals aufschrie, und dann war das Gewicht verschwunden.
»Lieutenant, verdammt noch mal, reden Sie mit mir!« Enie verstand die Stimme, und doch verstand sie gar nichts mehr. Irgendetwas griff nach ihr, zerrte sie hoch, auf die Füße.
Und als sie stand, blickte sie in das Gesicht von Gerrit Fryson.
*
Der junge Marine stand ihr gegenüber und blickte sie besorgt an. Zumindest schien es so; Frysons Sichtfenster war so zerkratzt, dass sie seine Gesichtszüge nur mit Mühe erkennen konnte. Sein Anzug war staubig und sah aus, als habe man einen Sack Zement über ihm ausgeschüttet. Hinter dem Offizier brannte das Schiff. Enie sah, wie die grauen Wände, die Decke und der Boden von der Hitze angefacht große Blasen schlugen. Die Blasen blähten sich auf, wölbten sich bis zum Äußersten und platzten dann, schmatzend und dröhnend. Der Knall war so laut, dass sie ihn durch ihren Helm und das Chaos hören konnte. Dort, wo die Blasen gewesen waren, lösten sich dicke Stücke vom Baumaterial des Schlangenschiffes.
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