Sternenfaust - 113 - Abgrund des Geistes
habe es seine Körpersprache gedeutet, setzte das Wesen abermals zu einer Erklärung an. »Nicht so. Die Verweigerung des Vergangenen kommt einer Verweigerung des Seienden und des Werdenden gleich. Denn was ist, wurde aus dem, was war. Ein Entkommen ist nicht möglich, weil das Vergangene das Jetzt definiert. Um aus dem Jetzt zu fliehen, müsste das Vergangene verändert werden. Doch Individuen sind gefangen in der Zeit, das ist bekannt. Sie können nicht darin wandern und sie nicht ändern. Was ist, ist.«
»Und wenn es nicht geht?«, fragte William leise und dachte an fünfzehn Jahre, an Träume und ein Versteckspiel vor dem eigenen Ich. »Wenn die Anforderungen der Gegenwart für einen Menschen zu viel geworden sind? Wenn ich nicht sein will, zu dem mich die Vergangenheit gemacht hat?«
»Irrelevant«, antwortete die Entität ausdruckslos.
»Aber ich muss mich doch schützen!«, begehrte der Mönch auf und war selbst überrascht über den trotzigen Unterton, der seinen Worten anhaftete. »Ich muss mich doch schützen können vor der Flut. Ich will nicht wiederholen, was ich schon einmal nur mit äußerster Not überstanden habe und was mich seitdem verfolgt und heimsucht.«
»Irrelevant«, wiederholte das Sandwesen. »Existenz bedeutet Veränderung. Anpassung und Wandel sind unabdingbar, um existent zu bleiben.«
Abermals sah William die schmelzende Außenwand der STERNENFAUST vor seinem geistigen Auge und erinnerte sich an die Ängste und Gedanken, die auf ihn eingeprasselt waren, die Bewusstseine, die sich in die Ohnmacht geflüchtet hatten. Müsste er sich all dem wirklich wieder stellen? Ich glaube, wenn ich eine Garantie hätte, dass mir so etwas wie damals während des STERNENFAUST-Zwischenfalls nicht wieder passiert, dann könnte ich mit dem leben, was ich kann. Aber das scheint nicht zu gehen. Was ist, ist. Niemand kann das garantieren. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte er dann ratlos. »Ob ich das überlebe. Diese ›Gabe‹ ist zu viel für einen Menschen. Wir sind nicht dafür ausgelegt, derartiges zu erleben.«
Die Gestalt schien dies zu erwägen und schwieg eine Weile. »Alle Eigenschaften sind von Nutzen. Auch jene, die als Einschränkung empfunden werden. Sie müssen jedoch anders genutzt werden. Existenz bedeutet den Versuch, diesen Nutzen zu erkennen.«
»Und wer nur steht und wartet, dienet auch«, murmelte William leise und fragte sich mit einem Anflug von Humor, ob der irdische Dichter John Milton vielleicht auch zu Lebzeiten einmal einer Entität begegnet war. Die Weisheit, die aus einigen seiner Werken sprach, ähnelte den Erkenntnissen, die William gerade gewann, doch stark: Jeder nutzte dem Herrn, auch jene, die selbst nicht zu mehr in der Lage waren, als daneben zu stehen und zu warten. Andererseits: Vermutlich war Milton einfach nicht so feige wie ich …
Schließlich nickte der Mönch. »Also gut«, sagte er. »Ich verstehe, was du meinst. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich ohnehin schon immer gewusst, dass ich mich nicht ewig vor mir selbst verstecken kann. Ich habe es nur nie wahrhaben wollen.«
Dann blickte er auf seinen verletzten Fuß. »Aber was kann ich jetzt überhaupt noch ausrichten? Hier komme ich ohnehin nicht mehr lebend raus.«
Die fremde Wesenheit beugte sich vor und streckte einen Arm aus. Langsam – als müsse die Nachbildung eines Menschen jede Bewegung neu erlernen und überdenken – näherte sich der Arm Williams Fuß, und dann legte sich die Hand um das schmerzende Gelenk. Atemlos beobachtete William, wie sie sich in wirbelnden Sand rückverwandelte. Dann zog die Entität den Arm wieder fort – und der Sand blieb, bildete plötzlich eine eng anliegende Schiene, die Williams Knöchel umschloss wie ein Verband.
»Das kann getan werden«, sagte die Entität und der Mönch registrierte verblüfft, wie aus ihrem Arm abermals eine Hand herauswuchs. »Nicht mehr. Der Weg vom Vergangenen zum Werdenden muss selbst gefunden und selbst beschritten werden. Nur so wird das Potenzial des Jetzigen genutzt.«
Es war das Ende der »Audienz«, das spürte William instinktiv. Das Sandwesen hatte alles gesagt, was es sagen wollte. »Danke«, hauchte er. Und vor seinen Augen löste sich die menschliche Gestalt in einer wirbelnden Fontäne aus Sand auf.
*
Als er das Bein belastete, fiel es William erstaunlich leicht. Der ungewöhnliche Verband aus Sand wirkte wie eine Schiene, verlieh Stabilität und nahm der schmerzenden Körperstelle
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