Sternenfaust - 148 - Herrscher der Orphanen (2 of 2)
Leben lang nichts als ein unmündiger Säugling gewesen wäre, dem jetzt erst der Verstand eines Erwachsenen zuteilwurde. Vince war unheimlich zumute, und seine Irritation steigerte sich noch, als er – bei allem Erkenntniszuwachs, den er erfuhr – mehr und mehr spürte, wie er sich selbst verlor ! Es war, als ob seine Identität, die sich in einem sechzigjährigen Leben gebildet und gefestigt hatte, in ihre Facetten zerbrach, und unter Schweißausbrüchen bemühte er sich verzweifelt, diese Facetten zusammenzuhalten! Er warf sich herum und blickte den Jungen an – ein Schrecken durchfuhr ihn!
»Adric!«, schrie er – denn der Junge veränderte sich ! Seine Haut hatte einen bläulichen Farbton angenommen, und seine grünen Augen waren näher zusammengerückt – und sie schienen sich weiterhin aufeinander zuzubewegen! Das groteske Bild eines Menschen stand vor Vince, und er fürchtete für einen Moment, dass jenes Vertrauen, mit dem er sich auf die Projektion eingelassen hatte, völlig fehl am Platz war.
»Adric!«, rief er abermals, doch der mittlerweile blauhäutige Junge, dessen Augen nun zu einem einzigen großen Sehorgan zusammengewachsen waren, blieb stumm.
Vince wandte sich abrupt ab und rannte auf der Suche nach einer spiegelnden Fläche durch die Halle. Eine furchtbare Ahnung hatte ihn ergriffen. Mit rasenden Schritten passierte er kegelförmige Terminals, baumdicke Leitungsstränge und eingekapselte Aggregate. Ihm schwand die Erinnerung an die eigene Biografie – die Erinnerung an das, was ein Mensch benötigte, um sich mit sich selbst identisch zu fühlen. Zugleich bereicherte sich sein neu erworbenes Wissen um Lebensfacetten , die ihm – so paradox es auch war – sowohl fremd als auch vertraut vorkamen. Sein vergrößerter Verstand schuf sich eine Persönlichkeit, die immer weniger mit ihm, mit … mit wem zu tun hatte?
Mein Name ist Vincent Fa… Fabiano! Vincent Fabiano Ta … Mein Name ist … Mein Schiff heißt … Wie heißt mein Schiff? Welches Schiff?
Vince rannte auf die spiegelnde Metallfläche eines zwanzig Meter hohen quaderförmigen Moduls zu. Konnte es sein, dass seine Haut so blau war wie … wie wessen Haut? Er stürmte auf das reflektierende Aggregat zu und blieb zwei Meter vor ihm stehen.
Die entsetzliche Angst wich von ihm. Was hatte er eigentlich befürchtet? Seine Identität zu verlieren? Sie war doch niemals gefährdet gewesen! Die spiegelnde Fläche des riesigen Bauteils zeigte ihn so, wie er immer gewesen war: ein blauhäutiges Wesen mit einem einzigen, das Gesicht dominierenden Auge mit mehreren Pupillen.
*
Matlanor, Kridania, Palast des Blutes, 17. Tsempir-Dan, im Jahre 19 Seran-Pakor, im Jahre 11562 Marton-Sar (entspricht dem 15. August 2271 irdischer Zeitrechnung)
»Hier spricht Kantumes, der Charisma-Herrscher des Volkes der Apri! Dies ist eine Botschaft an die Unheilvollen, die sich selbst Kridan nennen. Vor langer Zeit nahmt ihr uns unseren geliebten Heimatplaneten Apruumf, habt mit den Waffen eurer Schiffe die Eisdecke aufgerissen und uns ins Verderben gestürzt. Ein Leben, wie wir es kannten, war uns dort nicht mehr möglich. All das geschah, weil mein geliebter Großvater und Charisma-Herrscher Branosis sich unbeugsam zeigte und sein Volk nicht dem Glauben an euren Gott auslieferte, wie ihr es zur Bedingung machtet. Nein, er war standhaft im Glauben an den Eisvater Pru und seine Gefährten, und diese Heldentat habt ihr mit Blut vergolten!«
Letek-Kun zuckte zusammen, als die hässliche Gestalt auf dem großen Bildschirm in der Haupthalle des Palast des Blutes seine runde, mit Zähnen besetzte Schlundöffnung ruckartig auf und zu zog. Dabei stieß es röhrende Laute aus. Lachten die Apri etwa so? Der Priester des verstorbenen Raisa wusste es nicht, aber er ekelte sich vor dem mit weißen Fell besetzten Wesen mehr als vor allem, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte.
»Ihr habt uns mit dem Versprechen verlassen, dass euer Gott uns für unseren Unglauben richten würde. Ihr habt ein Meer von Gefühlssekret und Blut hinterlassen, uns unseren Rohstoff, die Härte , gestohlen und in euren Raumschiffen verbaut. Aber wir blieben stark, selbst als Branosis kurz nach dem Exodus von Apruumf ins Pantheon aufgestiegen ist, wo er nun auf ewig im klaren Wasser badet und ihm die Flitzer von Gni persönlich in die Krallen gelegt werden! Vergesst nie, was die Unheilvollen uns antaten! , befahl er seinem Nachfolger – meinem Vorgänger! Und die Apri haben
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