Sternenfeuer: Vertraue Niemanden: Roman (German Edition)
genauso zerwühlt und ungemacht wie am Tag des Angriffs auf die Empyrean. Der Blick auf den unordentlichen Raum half Waverly dabei, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass ihre Mutter eines Tages zurückkehren, die Bettdecken gerade streichen, das Nachthemd neben den Haken an der Wand hängen, den Lippenbalsam in die oberste Schublade der Kommode legen und das Foto von Waverly entstauben würde, das gerahmt ihr gegenüber an der Wand hing.
Sie wünschte, sie könnte mit ihrer Mutter über Seth sprechen. Regina Marshall war stets ein warmherziger, verständnisvoller Mensch gewesen, und sie hätte Waverlys Skepsis nie gebilligt. Sie würde vermutlich sagen, dass Seth nur ein zorniger Junge war, der seine Mutter verloren und fortan mit Mason Ardvale hatte leben müssen, was bei jedem ausgereicht hätte, um emotionale Schäden zu hinterlassen. Seth hatte seine Lektion gelernt, und dass er nicht mehr in der Arrestzelle war, brachte niemanden in Gefahr, noch nicht einmal Kieran.
»Er hat eine gute Seele«, hatte Regina einst über Seth gesagt. »Er wird nur missverstanden.«
»Und genau das denke ich auch«, teilte Waverly ihrer verlassenen Kabine mit.
Die Tür zum Wandschrank stand offen, und sie ließ eine Hand über die Kleider ihrer Mutter gleiten und sog ihren Geruch nach Sandelholz ein. Reginas schwarzer Pullover hing schief auf einem Bügel, und Waverly rückte ihn wieder zurecht und strich dann mit den Armen über die weiche Kaschmirwolle.
Auf dem obersten Regalbrett lag die Kiste mit Familienfotos, die Regina gehortet hatte – stets in der Absicht, sie eines Tages in ein Album einzukleben. Aber dann hatte sie doch nie die Zeit dafür gefunden. »Ich könnte das übernehmen«, murmelte Waverly. »Ich könnte die Bilder in ein Album kleben und meine Mutter damit überraschen, wenn sie nach Hause kommt.«
Sie würde durch all die Familienbilder blättern müssen, sie in eine sinnvolle Reihenfolge bringen, in ihren Erinnerungen versinken. Dann gäbe es keinen Raum mehr für Gedanken über Kieran oder Seth oder andere fürchterliche Dinge, die sie getan hatte. Nie hatte etwas derart verlockend für sie geklungen.
Waverly holte die Trittleiter aus der Küche, nahm den Karton herunter, trug ihn ins Wohnzimmer und setzte sich dann damit auf das Sofa.
Es gab etliche Bilder, und sie reichten von Reginas Babyzeit und Kindheit zu ihrer Zeit als Teenager und weiter bis zu jenem Augenblick, an dem sie begann, sich mit Waverlys Vater zu treffen – einem freundlichen Mann mit offenem Lächeln und tiefliegenden braunen Augen. Waverlys Babyfotos zeigten ein glückliches kleines Mädchen mit rosigen Wangen. Ein Bild, auf dem ihre Eltern sie – ein Baby mit zerzausten Haaren – im Arm hielten, mochte Waverly besonders gern. Sie legte es beiseite und beschloss, es zu rahmen und in ihrem Schlafzimmer aufzuhängen.
Ein Bild am Boden des Kartons weckte ihre Aufmerksamkeit, und sie zog es heraus. Es zeigte ihren Vater als jüngeren Mann, nur an seinen Schläfen zeigten sich erste Ansätze grauer Haare. Er stand neben Captain Jones. Die beiden Männer wirkten, als hätten sie gerade einen Witz miteinander geteilt, den nur sie allein verstanden. Eine der fleischigen Hände des Captains lag auf Galen Marshalls Schulter; die Finger waren angespannt, so als wolle Jones ihren Vater in eine bestimmte Richtung lenken. Ihr Vater lachte, das Kinn gesenkt, die Augen funkelnd. Die beiden Männer standen in einem großen, weißen Raum, der Waverly bekannt vorkam, bis sie erkannte, dass es eines der Labore war. Vielleicht das Botanik-Labor, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Waverly drehte das Foto um und las auf der Rückseite in Reginas Handschrift: Galen und Eddie, Entdeckung des Phyto-Luteins. Natürlich hatte Waverly dieses Bild bereits früher einmal gesehen, aber sie hatte sich niemals länger mit ihm beschäftigt, hatte sich nie gefragt, warum es zerknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden war, warum die Ecken des Bildes ausgefranst waren und dort das weiße Papier unter dem glänzenden Fotokarton zum Vorschein kam. Und sie hatte es niemals umgedreht, um die Beschriftung zu lesen – und falls sie es doch getan hatte, hatte sie sie nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Auch dieses Bild legte Waverly beiseite, ehe sie fortfuhr, die anderen Bilder durchzusehen und sie in eine chronologische Reihenfolge zu bringen.
Doch während sie weiterarbeitete, fiel ihr Blick immer wieder auf das Bild ihres Vaters mit Captain Jones an
Weitere Kostenlose Bücher