Sternenlaeufer
seinem ersten Jahr auf der Felsenburg einen Besuch abgestattet hatte. Sie hatte die alten Mauern Stein für Stein abgesucht, und ihr geübtes Auge hatte nicht nur das Gleitpaneel in Ostvels Bibliothek entdeckt, sondern auch bislang unbekannte Türen, Gänge und Treppen.
»Ich bezweifle, dass Roelstra davon gewusst hat«, bemerkte sie, als sie eines Nachmittags einen geheimen Korridor erforschten, wobei sie sich Schritt für Schritt auf einen Spazierstock mit Drachenkopf stützte. »Er hat seinen Vater umgebracht, musst du wissen, als er gerade zehn Jahre alt war. Giftmord, heißt es. Wenn er dessen natürlichen Tod abgewartet hätte, hätte er vielleicht mehr von den Geheimnissen der Felsenburg erfahren. Aber man kann an dem Staub und Durcheinander erkennen, dass diese Gänge seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden sind. Wahrscheinlich sind sie schon mehr als fünfzig Winter lang unbenutzt.«
Ostvel hatte das Zumauern jedes geheimen Ganges, jeder Geheimtreppe und jedes verborgenen Zimmers persönlich überwacht. Die Diener befolgten seine Anweisungen und gafften mit offenem Mund über die Enthüllung einer Welt innerhalb der Welt, die sie ihr Leben lang gekannt hatten. Aber bestimmte Verstecke hatte er gelassen, wie sie waren, und diese kannten nur er selbst und Alasen. Das Versteck in der Bibliothek gehörte dazu; eine ähnliche geheime Nische in der Wand ihres Schreibzimmers desgleichen – tatsächlich war diese Nische sogar der Grund dafür, dass sie dieses Zimmer gewählt hatte. Außerdem ließ Ostvel einen Gang offen, der von ihren privaten Gemächern zu jenen führte, die für Pol bestimmt waren, wenn er daheim war, und von dort aus weiter zu einem verborgenen Ausgang aus der Felsenburg. Myrdal hatte darauf bestanden. »Man kann nie wissen«, hatte sie ihn ermahnt, »ob ihr nicht vielleicht einmal eilig die Burg verlassen müsst, ohne dass es jemand bemerkt.«
Nicht dass die Felsenburg auch nur im Entferntesten bedroht worden wäre, niemals in all den Jahrhunderten. Ostvel hoffte bei seinen weiteren Nachforschungen in den Archiven herauszufinden, wer sie erbaut hatte, wann und warum. Doch im Augenblick beschäftigten ihn die Ereignisse der letzten Jahre, und so wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Truhe zu, die die Dokumente aus den Jahren direkt vor Pols Geburt enthielt.
Die Verbindung zwischen Roelstra und Ianthe und den Merida war ihm nicht neu, ebenso wenig wie die Berichte über ihre Schwierigkeiten, die Nachkommen ehemaliger Mörder im Zaum zu halten. Er lächelte ein wenig, als Roelstras Zorn ihm aus den wütenden Berichten über die Verhandlungen entgegensprang. Auf einen weiteren Brief an Ianthe mit Glückwünschen, weil sie erneut schwanger war – mit Marron, schloss Ostvel –, folgte ihr Antwortschreiben mit der Frage nach den Gerüchten über die Pest.
Ostvel legte dieses Blatt beiseite. Er war nicht gewillt, jenes Frühjahr und jenen Sommer noch einmal zu durchleben, die bereits zwanzig Jahre zurücklagen, eine Zeit, in der er hilflos Camigwens schmerzvollem Sterben hatte zusehen müssen. Das nächste Pergament war die Kopie eines Abkommens zwischen Roelstra und Rohan, in dem der Preis für das Dranath festgelegt wurde, das die Pest geheilt hatte. Durch seine Händler hatte Roelstra eine gewaltige Summe für das Kraut, das nur im Veresch wuchs, gefordert und erhalten. Sein nächster Brief an Ianthe war voll Erstaunen und Wut gewesen, weil Rohan die geforderte Summe Gold aufgebracht hatte. Keiner hatte jemals vermutet, dass dieses Gold nicht aus seiner Schatzkammer stammte, die er hatte leeren müssen, sondern dass er Drachengold benutzt hatte.
Doch das Mittel war für Camigwen zu spät gekommen, ebenso wie für Rohans Mutter, Prinzessin Milar, Maarkens Zwillingsbruder Jahni und für Tausende anderer Menschen. Auch für Sioneds ungeborenes Kind. Ostvels Kiefermuskeln verkrampften sich. Rohan hatte immer vermutet, dass Roelstra die Droge absichtlich zurückgehalten hatte, bis einige seiner Feinde der Seuche erlegen waren, aber er hatte das nie beweisen können. Es war ein Segen der Göttin, dass Rohan nicht unter den Toten gewesen war.
Ostvel grub tiefer und fand einen Brief, in dem Ianthe sich freudig über die Geburt ihres zweiten Sohnes ausließ. Dann las er einen anderen, in dem sie ihren Vater bat, einen Angriff auf eine Handelskarawane zu arrangieren – und eine Kopie von Roelstras Antwort. Er schlug vor, sie solle ihren Merida-Geliebten dazu veranlassen, das zu regeln.
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