Sternenlaeufer
Sioned ging, würde niemand es je erfahren, vor allem nicht Pol. Ostvel zweifelte daran, dass es klug war, dem Knaben nicht die Wahrheit zu sagen, aber er hatte nicht darüber zu entscheiden.
Er schloss die Truhe und versperrte sie. Anschließend verstaute er sie mit der anderen gefährlichen Lade in dem Geheimversteck. Vielleicht kam Sioned wirklich damit durch. Nichts in den Archiven deutete auch nur an, dass Ianthes vierter Sohn nicht in Feruche umgekommen war. Jeder wusste, dass Ianthe schwanger gewesen war, und viele glaubten, dass das Kind wirklich von Rohan war. Ostvel war in jenem Sommer und Herbst in Stronghold gewesen, als Sioned bis auf drei alle Bediensteten der Burg verwiesen und das Gerücht ausgestreut hatte, sie wäre erneut schwanger. Zwei der Diener waren seither verstorben, und ihr Wissen um das Geheimnis war mit ihrer Asche vom Wüstenwind davongetragen worden. Der einzigen noch Lebenden, Tibalia, die zu jener Zeit ein junges Mädchen gewesen war und jetzt verantwortlich war für alle Mägde in Stronghold, konnte man uneingeschränkt vertrauen. In Skybowl, wohin Sioned und Ostvel und Tobin aus Feruche geflohen waren und wo Pol seinen Namen erhalten hatte, hatten sie erzählt, dass Sioned, außer sich vor Wut, als sie erfuhr, dass Ianthe Rohans Kind trug, ausgezogen war, um ihre Rivalin zu vernichten – und dass die anstrengende Reise die vorzeitige Geburt ausgelöst habe. Niemand hatte diese Geschichte jemals infrage gestellt, obwohl Ostvel auch nicht hätte sagen können, ob man sie wirklich glaubte oder nicht. Aber Skybowls Bewohner hatten das Geheimnis des Drachengolds gewahrt. Was immer sie glaubten, man konnte ihnen vertrauen. Und sicherlich wären sonst schon vor langer Zeit Gerüchte hörbar geworden.
Also war Sioned wahrscheinlich sicher, was ihre Täuschung anging. Bei der Göttin, sie hatte teuer dafür bezahlt. Ianthes höhnische Anspielung auf vielfache Vergewaltigungen hatte sich wie ein Messer in Ostvels Herz gebohrt. Es war mehr als nur die Qual darüber, dass die stolze Sioned dermaßen benutzt worden war. Denn für sie war nichts davon jemals geschehen. Sie hatte niemals ein Wort darüber verloren, was man ihr in Feruche angetan hatte; Ostvel hatte durch Rohan davon erfahren. Ebenso wenig sprach sie je von diesem Sommer und Herbst des Wartens oder von der Nacht, als Feruche brannte. Nichts von all dem existierte für sie. Manchmal fragte er sich, ob sie überhaupt eine klare Erinnerung an jene Zeit hatte. Er war wirklich zu dem Schluss gekommen, dass sie in jenem Jahr ein wenig verrückt gewesen war. Er wusste aus Erfahrung, dass das Herz von Schmerz, Entsetzen und Leid gereinigt werden musste. Sioneds Wunden waren noch immer offen und bluteten. Ostvel kannte sie von Kindheit an; sie konnte nur sehr wenig vor ihm verbergen.
Er drehte die kleine Schnitzerei aus vergoldetem Eichhorn, die genau in die Holztäfelung passte. Myrdal hatte bemerkt, dass andere geheime Räume, Türen und Gänge mit einer ähnlichen Schnitzerei geöffnet werden konnten, die einen aufgehenden Stern darstellte. Ostvel fand es reizvoll, dass Pols Name der Schlüssel zu den Geheimnissen der Felsenburg war, und gleichzeitig gespenstisch, dass Ianthe Worte geschrieben hatte, die dasselbe bedeuteten wie der Name, den Sioned ihm gegeben hatte. Und was am merkwürdigsten war, dieselben Sterne lieferten das Licht, das die Diarmadh’im verwendeten.
Das Wort bedeutete »Sternbrenner« und wurde davon abgeleitet, dass bei ihnen Felshaufen während bestimmter, ritueller Zaubereien glühten. Urival tauschte hin und wieder Bruchteile des Wissens aus der Sternenrolle über das Sonnenlicht mit Sioned aus, und einiges davon gab diese dann an Donato weiter. Überall waren auf einmal Sterne, so schien es: in der Hexerei, in Pols Namen, als Schlüssel zu den Geheimnissen der Felsenburg fanden sie Verwendung – war die Burg womöglich von diesen Diarmadh’im erbaut worden?
Ostvel streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen Schultern zu vertreiben. Seine Schmerzen erinnerten ihn daran, dass dies schon sein achtundvierzigster Winter war. Ein Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als er darüber nachdachte, wohin ihn diese Jahre geführt hatten – von einem kleinen Gefolgsmann in der Schule der Göttin bis zum Regenten der Prinzenmark. Er hatte einen erwachsenen Sohn, der ein Faradhi und Herr über seine eigene Burg war, und eine kleine Tochter, deren Mutter eine Prinzessin war, und …
Er stöhnte auf. Heute war es zwei
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