Sternenlaeufer
wurde fester. »Du glaubst also nicht, dass ich Ruval besiegen werde?«
»Im Gegenteil. Ich glaube, du wirst es schaffen. Aber du hast andere Feinde. Vagabundierende Diarmadh’im, die auf Rache aus sind, weil ihr Anführer und Prinz getötet wurde. Herumstreifende Merida gibt es immer. Auch Chiana darf nicht außer Acht gelassen werden. Und ebenso wenig Miyon.« Andry machte eine Pause. Dann, mit spöttischem Ernst: »Was wird wohl sein, wenn du das Mädchen schließlich heiratest – glaubst du, das Messer in deinem Rücken wird seine Fingerabdrücke aufweisen oder ihre?«
Pol gab ihn frei, als würde die Berührung ihn verbrennen. »Es ist verdammt gut, dass man dir dieses Prinzentum verboten hat.«
»Denk daran, wenn die Zukunft kommt, die ich vorausgesehen habe.«
Sie funkelten sich im wütenden Flackern von zwei kleinen Flammen an. Nach wenigen Augenblicken zuckte Andry erneut mit den Achseln und stieg weiter die Treppe hinauf. Pol wartete, bis er wieder die Kontrolle über sich hatte. Die Kellertür öffnete sich hinter seinem Vetter und schloss sich wieder.
»Das war der letzte Versuch – dieses Mal«, schwor er sich. »Nie wieder.«
Glücklicherweise hatte er sich ausreichend beruhigt, um selbst auch zu hören, was er sagte – und um das Gesicht zu verziehen. So viel zu dem, was er seiner Meinung nach an diesem Abend gelernt hatte. Er hatte schnell und entschlossen gehandelt, was Mireva anging, und er hatte lange genug durchgehalten, damit sein Vater seinen Plan ausführen konnte. Und das war der Unterschied zwischen ihnen: Rohan hatte genau gewusst, was er tat, aber Pol nicht. Pol hatte instinktiv gehandelt. Aus dem Gefühl heraus. Sein Vater arbeitete aus sicherem Wissen und geduldiger Überlegung heraus; diese Dinge waren Rohans größte Kraft.
Maarken mochte in schneller Wut schwelgen, aber Pol durfte das nicht. Schon gar nicht, wenn es um Andry ging, der die Kunst, wie er ihn in Wut bringen konnte, meisterhaft zu beherrschen schien. Und ebenso wenig, das erkannte er plötzlich, angesichts der mysteriösen Zukunftsdrohung. Obwohl er sich der Schule der Göttin gegenüber nicht verpflichtet fühlte und ihrem Herrn oder ihrer Herrin nichts von der Ehrfurcht und Unterwürfigkeit der anderen Menschen, vor allem der anderen Lichtläufer, entgegenbrachte, konnte er doch nicht umhin, Andrys Gewissheit zu respektieren, dass diese Drohung wahr werden würde. Er selbst war das lebende Zeugnis der Macht von Faradhi -Visionen.
Geduld. Die Fähigkeit zu warten, Dinge durchzudenken, nur dann zu handeln, wenn man es verstand. Die Fähigkeit, Macht und Kraft dort einzusetzen, wo sie am meisten Gutes taten. Sicher zu sein, wann, wie, wo und warum man handelte. Immer vorsichtig zu sein – und rücksichtslos, wenn nötig. Die Fähigkeit, genau zu wissen, was zu tun war. Rohan und Sioned hatten auf diesen Eigenschaften Frieden aufgebaut. Er zweifelte plötzlich daran, dass er jemals ihre Weisheit erlangen würde.
Wären seine Eltern sich der hohen Tugenden bewusst gewesen, die Pol ihnen zuschrieb, sie hätten ihn mit vor Staunen offenem Mund angestarrt und wären dann in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ihre Liste an Fehlern, falschen Berechnungen und Einschätzungen war ebenso lang wie die jedes anderen Menschen – und sie hätten sicher als Allererste zugegeben, dass sie oft aus blindem Instinkt heraus gehandelt hatten, ohne auch nur einen Hauch von Geduld.
Doch als er nun die letzten Stufen erklomm, lehrten Pols Selbstvorwürfe ihn mehr, als wenn seine Wahrnehmungen genauer gewesen wären. Irgendwann einmal würde er die Geschichte überprüfen und zu dem Schluss kommen, dass Perfektion nicht zu den Verdiensten seiner Eltern zählte. Aber für den Augenblick war es von weit größerem Nutzen für ihn, ihnen jederzeit Geduld, Vorsicht und Wissen zu unterstellen.
Das ermöglichte es ihm, mit ruhigem Geist zuzuhören, als Ruvals Herausforderung kurz vor der Morgendämmerung auf dem letzten Sternenlicht widerhallte. Pol hörte die Arroganz und die Wut, die Beleidigungen und die Unverschämtheit und erkannte, dass Ruval seine Furcht überspielte. Er stand in einem Fenstergang inmitten eines Tümpels aus hellem, weißem Licht und lächelte. Er gab keine Antwort. Seine Antwort würde morgen kommen, wenn die Mittagssonne den Rivenrock Canyon in einen Backofen verwandelte.
Kapitel 26
Stronghold: Frühjahr, 35. Tag
Kurz nach der Morgendämmerung stürmte Tobin in die Gemächer ihres Bruders. Ihre Wut
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