Sternenlaeufer
Pol konnte nur noch staunen und den nächsten unerwarteten Schritt seines Vaters abwarten. Aber wenn er etwas Spektakuläres erwartet hatte, so begegnete er doch nur einem müden Lächeln.
»Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns alle ein wenig ausruhen«, meinte Rohan. »Der morgige Tag könnte recht anstrengend werden.«
Sie schleiften Mireva hinaus. Andry näherte sich ihr mit der Neugier eines Gelehrten, der eine neue Entdeckung mustert.
»So«, meinte er, »das ist also das Gesicht einer Zauberin.«
Sie sprang auf die Füße. Ihre Handgelenke waren bereits wund, weil sie sich gegen die Drahtfesseln gewehrt hatte. »So«, höhnte sie, »das ist also das Gesicht eines Schwächlings von Lichtläufer.«
Seine Brauen schossen in die Höhe. »Du bist die Gefangene hier, nicht ich.«
»Nicht für lange.« Trotzig warf sie den Kopf zurück, und der Stahl schimmerte an ihrem Ohrläppchen.
»Erspare uns deine Drohungen«, fuhr Riyan sie an. Er hielt Ruala in den Armen. »Für Ruval gibt es jetzt keinen Schutz mehr. Er wird Pol fair bekämpfen müssen.«
»Ach«, murmelte Sioned und warf Rohan einen überraschten Blick zu.
Auch Pol hatte es gerade erst gemerkt. Indem sie Mireva ihrer Zauberei beraubten, konnte beim Rabikor nicht die Kuppel aus Sternenfeuer geformt werden.
Riyan und Ruala waren sicher.
»Ihr glaubt, Ihr habt gewonnen, Hoheprinz«, spottete Mireva. »Denkt gut nach. Ihr wisst nicht, wo er ist und was er tut, was er weiß und wie er es verwenden wird.« Sie wandte sich lachend Pol zu. »Was nützen Euch Eure Lichtläufertricks gegenüber der vollen Macht eines Diarmadhi ?«
Andry antwortete ihr. »Sie scheinen dir gegenüber recht gut gewirkt zu haben.«
»Nicht für lange«, wiederholte sie.
Myrdal stieß ihren Stock auf die Steine. »Ich habe genug von diesem Stück Dreck«, verkündete sie. »Schafft sie mir aus den Augen.«
Pol und Maarken gingen auf Mireva zu. Andry blieb einen Schritt hinter ihnen.
»Drei junge Männer, um eine arme, hilflose, alte Frau zu bewachen?«, höhnte sie. »Ihr müsst mich ja noch mehr fürchten, als ich dachte.«
»Schmeichel dir nur nicht selbst«, erklärte Pol. »Die kommen nur mit, um sicherzugehen, dass ich dich nicht auf der Stelle umbringe.«
»Glaubst du, das könntest du?«
Er lächelte süß. »Ich weiß es. Aber ich möchte dich nicht der Gelegenheit berauben, Ruvals Tod beizuwohnen.«
Sie brachten sie nach unten. Jetzt waren Menschen in den Gängen. Sie kehrten auf Chays Befehl in ihre Betten zurück, aus denen sie vertrieben worden waren, und Neugier ließ ihre Augen fast aus den Höhlen treten. Nicht nur, dass diese gewöhnlich aussehende Frau eine außergewöhnliche Eskorte hatte, noch dazu erhellten drei kleine Flämmchen aus Lichtläuferfeuer ihren Weg die Treppen hinab. Pol wusste, dass sich die Nachricht im Schloss ausbreiten würde, noch ehe jedermanns Kopf auf den Kissen lag. Alle würden glauben, die Gefahr sei gebannt, was immer es auch gewesen war, und sie wären sicher. Sein Vater übte stets diese Wirkung auf Menschen aus.
Als er hinter Mireva die Kellertreppe hinabging, erkannte er, dass seine eigene Furcht nachgelassen hatte. Gütige Göttin, wie listig Rohan doch war. Zuerst hatte er Pol die Sternenrolle gezeigt, damit er mit ihrem Zauber arbeiten konnte und die Traditionen des Rabikor kennenlernte. Dann war die Enthüllung über Ianthe gefolgt, damit er wusste, dass er Ruval an Macht gleichkam, wenn auch nicht an formeller Ausbildung. Und schließlich hatte er Mireva mit einem harmlosen Stück Stahl zur Hilflosigkeit verurteilt, da es jeden Versuch von Zauberei unterbinden würde; es gab keine anderen Kräfte als seine eigenen und Ruvals, wenn der ihn forderte. Noch immer krampfte sich sein Bauch angespannt zusammen. Aber Pol wusste, dass er dem Mann ohne Angst gegenübertreten würde. Sein Vater hatte ihm das ermöglicht.
Und seine Mutter. Sionell hatte Recht. Es musste Sioned ihre Seele gekostet haben, ihm davon zu erzählen. Und er hatte es ihr mit Grausamkeit vergolten. Er würde es mit mehr als den Worten, die er vorhin zu ihr hatte sagen können, wiedergutmachen. Prinzessin Ianthe verdankte er vielleicht seine Existenz, aber seiner Mutter verdankte er sein Leben.
Und Sionell. Er musste sich entschuldigen.
»Hier«, sagte Maarken und unterbrach Pols Gedanken. »Großvater Zehava hat mir das gezeigt, als ich noch klein war. Dort hat er die seltenen Idioten festgehalten, die es wagten, ihn ein zweites Mal zu
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