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Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Titel: Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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irgendwelche Lügen oder ausweichenden Antworten aufzutischen. Dass es nicht an einem Wachstumsschub lag, war nur zu offensichtlich. Gott sei Dank. Sie war ohnehin viel zu groß, und als sie jünger war, hatte sie damit schwer zu kämpfen gehabt. Inzwischen waren ihr diese Probleme vollkommen gleichgültig. Sie hatte Raphael. Der Gedanke an ihn brachte sie zum Lächeln.
    Bevor sie nach draußen ging, stapfte sie noch am Kaffeeautomaten vorbei und holte sich einen doppelten Espresso. Sie umfasste den Pappbecher und genoss die Wärme, die durch ihre Handschuhe drang, bevor sie einen Schluck nahm, woraufhin sie das Gesicht verzog. Viel zu bitter. Aber er machte wach. Mehr Schlaf und wieder Milchkaffee – zwei Ziele für die nahe Zukunft.
    Sofort sprangen ihre Gedanken zu dem neuen Thema. Zukunft. Altern. Raphael.
    Natürlich war es Unsinn, einen Selbstmord auch nur zu erwägen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Sternenseele zu werden, war gering. Es wäre nur ein feiger Ausweg, um den Problemen, mit denen sie eines Tages konfrontiert werden würden, auszuweichen.
    Trotzdem wünschte sie sich insgeheim, dass sie die Sternenseele sein würde, deren nahende Geburt Raphael spürte. An den Prozess des Sterbens wollte sie dabei nicht genauer denken.
    Bevor sie das Gebäude verließ, sammelte sie sich, um der Kälte nicht unvorbereitet gegenüberzutreten. Sie seufzte. Ein heißes Bad, wenn auch nur für zwanzig Minuten, das würde sie sich heute gönnen.
    Den Becher in der einen Hand stieß sie die Eingangstür mit der Schulter auf. Kaum war sie draußen, presste sie den Becher an ihre Brust und wünschte sich zum ersten Mal einen anderen Mantel herbei und nicht den alten Armeemantel ihres Vaters, den sie seit dessen Tod trug. Er war im Lauf der Zeit zu dünn geworden und ohnehin nie für eisige Winternächte gedacht.
    Seit sie mit Raphael zusammen war, dachte sie nicht mehr so oft an ihren Vater. Nicht dass sie ihn vergessen würde, doch der konstante Schmerz, der über Jahre an ihr genagt hatte, verblasste. Sie sprachen viel über ihn, und er verstand sie im Gegensatz zu den anderen in ihrem Alter, die noch niemanden verloren hatten. Sie war Raphael dankbar, dass er, obwohl er während seines langen Lebens so viel mehr Menschen verloren hatte als sie, ihre Trauer dennoch ernst nahm.
    Zudem half ihr das Wissen, dass ihr Vater nicht einfach fort war. Wie viele Stunden hatte sie früher damit verbracht, sich zu fragen, was der Tod bedeutete? Hörten sie einfach auf zu existieren? Waren sie wirklich nicht mehr als die Summe chemischer Reaktionen, die ihre Körper ausmachten? Ein reines Zufallsprodukt in den Weiten des Kosmos? Nun, da sie wusste, dass es tatsächlich Seelen gab, die zur Sonne zurückkehrten und auf den Zeitpunkt ihrer Wiedergeburt warteten, fühlte sie sich nicht mehr so schrecklich verlassen. Die Vorstellung, dass er über sie wachte, sie sich eines Tages wiedersehen würden, war tröstlich. »Ich vermisse dich«, murmelte sie, während sie den Springbrunnen passierte. Sie sah zum Sternenhimmel hinauf, fragte sich, wie viele dieser Sterne ihren Planeten Leben schenkten und ob vielleicht in diesem Moment ein anderes, fremdartiges Wesen ebenfalls den Nachthimmel bewunderte. Dadurch bemerkte sie nicht, dass ein Mädchen mit dicken rotblonden Locken, hohen Wangenknochen und leicht schräg stehenden tiefschwarzen Augen ihr im Torbogen entgegentrat. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock über einer grauen Wollstrumpfhose, Stulpen und Stiefel. Eine Lederjacke, aus dem ein Rollkragen hervorstach, verlieh ihr ein verwegenes Aussehen, das zu den entschlossenen Schritten passte, mit denen sie auf Lilly zuging. Sie bemerkte sie erst, als sie vor ihr stand und ihr mit einer Kraft, die dieser kleinen Person kaum zuzutrauen war, in den Bauch boxte.
    Lilly keuchte erschrocken auf, sank in die Knie. Der Kaffeebecher entglitt ihrer Hand, prallte auf den Boden und spritzte seinen Inhalt auf Lillys neue Hose, die sie gerade erst im Internet ersteigert hatte. Was für ein absurder Gedanke, dachte sie, während sie das Mädchen fassungslos und von Schmerzen benebelt anstarrte. Sollte es so enden? War das die Sternenbestie, die alle so sehr fürchteten? Hatten sie am falschen Ort gesucht? Hatte die Bestie sich gar nicht in das Internat eingeschlichen? Aber warum griff sie sie an?
    Egal. Sie musste hier weg. Zurück in die Schule. Doch als sie einen Fuß aufstellte, durchflutete sie eine neue Welle des Schmerzes, und sie schloss stöhnend

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