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Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Titel: Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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Freunde, musste sie sich eingestehen, hatte sie kaum welche. Sie schloss die Augen. Was sollte sie nun mit sich anfangen? Vor wenigen Monaten war ihr Weg klar vorgezeichnet gewesen. Sie würde studieren – vielleicht Modedesign – und mit dem Vermögen ihrer Eltern im Rücken ein sorgloses Leben führen, bis sie einen Mann fand, der bereit war, ihr luxuriöses Dasein weiter zu finanzieren. Mit ihrer Abstammung, den Genen und ihrem Aussehen stand ihr in ihren Augen auch nicht weniger zu. Und nun? Sie würde arbeiten müssen. Ein erschreckender Gedanke. Zudem flüsterte ihr eine leise Stimme ein, dass sie es ohnehin zu nichts bringen würde. Für ein Model hatte sie zu viele Kurven, mit Menschen konnte sie nicht umgehen, und für alles andere ließen entweder ihre Noten zu wünschen übrig, oder sie hatte einfach kein Talent dafür. Sie presste die Lippen aufeinander. So leicht wollte sie nicht aufgeben. Bisher hatte sie sich auf nichts Ernsthaftes mit den Jungs auf dem Internat eingelassen. Sie bevorzugte reifere Männer, aber besser ein steinreicher Jüngling als niemand oder gar einen armen Schlucker. Wenn sie sich so das Leben ermöglichen konnte, das ihr zustand, wäre sie zu diesem Opfer bereit. Nur wen sollte sie wählen?
    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Schrei zuerst gar nicht wahrnahm. Erst als er abrupt endete und die Stille zurückkehrte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie sah in den Park hinunter, den vereinzelte Laternen in ein düsteres Zwielicht tauchten, und entdeckte zwei schattenhafte Umrisse. Eine Gestalt lag auf dem Boden, eine weitere sprang in beunruhigender Geschwindigkeit davon, verschwand im Schatten eines Baumes. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, und sie erkannte das am Boden liegende Mädchen an ihrem hässlichen Mantel. Lilly. Mit einem Anflug von Erleichterung, der sie selbst überraschte, registrierte sie, dass sie sich regte und auf den Rücken drehte. Ihr Gesicht war blutverschmiert. Entsetzt beobachtete sie, wie Lilly vergeblich versuchte, sich aufzurichten.
    Was sollte sie nur machen? Das Geschehen ignorieren? Das brachte sie nicht fertig. Noch nicht. Irgendwann hoffte sie, diese Abgebrühtheit an den Tag legen zu können. Aber sie wollte auch nicht nach Hilfe rufen oder einen Lehrer um Verstärkung bitten. Wenn bekannt wurde, dass sie Lilly geholfen hatte, bekäme ihr Ruf einen gewaltigen Knacks. Sie hörte jetzt schon Isabels Stimme. Wie kannst du dich nur mit so einer einlassen? Das sind ihre Probleme und nicht unsere. Und was würde erst passieren, wenn ihre eigene Situation zum Gesprächsthema wurde? Das hätten wir uns denken müssen. Erinnert ihr euch, wie sie sich um diese Lilly gekümmert hat? Die unteren Schichten fühlen sich doch immer zueinander hingezogen.
    Nein, das war auf keinen Fall eine Option. Ihre Treffen mit Evann, so heimlich sie sie auch gestaltete, sorgten schon für genug Tratsch und ungläubige Blicke. Aber das war eine ganz andere Geschichte. Sie musste sich selbst um Lilly kümmern. Das Mädchen irgendwie ungesehen nach Hause bringen und sich dann zurück ins Internat stehlen. Immerhin war Samstag – da kamen sie mit ihrem Schlüssel bis ein Uhr nachts in das Gebäude hinein, ohne einem Lehrer Rede und Antwort stehen zu müssen.
    Kurz entschlossen stand sie auf und eilte den Gang hinunter, bis sie den Seiteneingang erreichte, der direkt in den Park mündete. Sie hatte schnell gelernt, sich in diesem Chaos aus ineinander verschachtelten Räumen, Fluren und Treppen zu orientieren, nachdem sie ständig auf der Suche nach einem Ort war, an dem sie sich ungestört mit einem Jungen zurückziehen konnte. Zumindest früher, als sie noch nicht zu den Ältesten gehört hatte. Sie wusste, dass man sie hinter vorgehaltener Hand ein Flittchen nannte, aber das war ihr reichlich egal. Sie lebten im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wenn ein Mädchen selbst jetzt nicht ihren Spaß haben durfte, wann denn bitte dann?
    Kaum stand sie in der eisigen Kälte, bereute sie ihre Entscheidung auch schon wieder. Außer ihren Sportsachen und ihrer Handtasche von Dolce & Gabbana hatte sie nichts dabei, sodass sie ohne Jacke, Schal und Handschuhe erbärmlich fror. Dafür ist sie mir etwas schuldig, dachte Calista, während sie den rutschigen Weg entlanglief. Was hatte Lilly nur angestellt, dass jemand sie so zusammenschlug? Mit ihren Pumps kam sie nicht gut voran und wäre beinahe gestürzt, doch schließlich trennte sie nur noch eine

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