Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
einen warmen Kuss auf die Lippen. »Das Glück haben nicht alle Sternenbestien.«
»Trotzdem finde ich den Gedanken nicht schlimm, dass eine weitere Sternenseele geboren wird. Vielleicht kann sie euch helfen, den Kampf zu gewinnen.«
»Junge Sternenseelen sind für gewöhnlich viel zu verwirrt, um von Nutzen zu sein. Und wer weiß, unter Umständen ist es auch der Zwillingsstern von jemandem und muss seinem Ruf folgen?«
Lillys Herz setzte einen Schlag aus. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. »Und wenn es dein Zwillingsstern ist?«, fragte sie und unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme. Was würde aus ihnen werden, wenn sein Gegenstück wiedergeboren wurde? Sie kannte die Antwort: Er würde sie verlassen. Und auch wenn sie es zu gerne verdrängt hätte, fragte sie sich, ob es Zufall sein konnte, dass in seiner Nähe nun bald eine Sternenseele geboren werden würde.
Raphael schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Das kommt nur selten vor, dass ein Zwillingsstern wiedergeboren wird.«
»Aber es könnte passieren«, flüsterte sie.
Er zog sie dichter an sich. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich nie verlassen.«
Doch Lilly konnte nicht anders. Die Vorstellung, dass eine andere für ihn bestimmt war, nagte an ihrem Herz. War es selbstsüchtig, dass sie sich nicht ausmalen wollte, wie er mit einer anderen sein Glück fand? So perfekt es auch sein mochte? Ihr wurde immer stärker bewusst, dass sie nur von geborgter Zeit lebten. Entweder alterte sie, oder seine vorbestimmte Partnerin würde wiedergeboren werden. So oder so – viel Zeit blieb ihnen nicht.
Wie es für ihn sein mochte zu wissen, dass er sie irgendwann zu Grabe tragen musste? Mit einem Mal verstand sie seine Worte über den Verlust der Freunde viel besser. »Wie war sie?«
»Sie starb, bevor ich sie richtig kennengelernt habe. Das ist das Schlimmste. Du weißt, dass da jemand ist, der für dich bestimmt ist, und dann gelingt es dir nicht, sie zu beschützen. Ich erinnere mich nur noch an ihr Gesicht und an ihre Augen. Sie waren von tiefstem Moosgrün mit braunen Sprenkeln.« Er küsste sie in die Nackenbeuge, fuhr mit seinen Lippen bis zu ihrem Schlüsselbein entlang. »Aber alles wendet sich dann doch irgendwann zum Guten. Nur so konnte ich dir begegnen.«
Hoffentlich, dachte Lilly, bevor sie alle negativen Gedanken verdrängte und sich nur noch auf Raphael, seine weichen Lippen und sanften Hände, konzentrierte. Solange sie ihn noch hatte, wollte sie jede Minute mit ihm auskosten.
21
† V om gegenüberliegenden Hausdach aus beobachtete sie die Umrisse der Schülerinnen, die die Treppen des Tanzsaals hinuntereilten. Sie massierte ihre Finger, die von der Kälte steif und unbeweglich waren, und sehnte den Sommer herbei.
Sie zog sich oft an diesen Platz zurück, um den Tänzerinnen zuzusehen. Sie mochte die Anmut ihrer Bewegungen und die schlichte Eleganz, die sie ausstrahlten. War sie einst auch so gewesen? Sie sah an sich hinab auf die zweckdienlichen, dicken Stiefel, die ihre schmalen Füße verbargen, die doppelte Schicht Wollstrumpfhosen, die ihre ohnehin kräftigen Waden noch viel massiver wirken ließen. Nein, eine Tänzerin war sie bestimmt nie gewesen.
Aber warum war sie so anders, lebte mehr wie ein Tier als ein menschliches Wesen? Wann immer sie ihre Herrin fragte, verweigerte diese die Antwort. »Du bist, was du bist. Lebe damit.«
Trotzdem ließ ihr das Thema keine Ruhe. Konnte man ihre Existenz tatsächlich als Leben bezeichnen? Für sie fühlte es sich nicht so an. Selbst ein Tier existierte nicht nur, um seinem Herrn zu dienen, sondern spielte, freute sich oder gab sich seinen Trieben hin. Das alles war ihr verwehrt. Sie konnte dem Treiben lediglich von außen zusehen wie eine Puppe im Theater, die nur zum Leben erweckt wurde, wenn jemand an ihren Fäden zog.
Seit zehn Jahren versuchte sie nun schon, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern, irgendeinen Hinweis zu finden, doch ohne Erfolg – bis jetzt. Zum ersten Mal verspürte sie Hass – zumindest kam ihr dieser Begriff sofort in den Sinn, wenn sie daran dachte. Hass auf diese Lilly. Es musste einen Grund geben, warum sie so empfand, und sie hoffte, dass er in ihrer Vergangenheit lag.
Bei dem Gedanken an das Mädchen tauchten Bilder in ihrem Kopf auf, wie sie schreiend starb, ihre Augen blicklos zum Himmel starrten. Sie mochte dieses Gefühl. Hass war besser als diese unbestimmte Trauer und Sehnsucht, die sie sonst fühlte. Das Gefühl war greifbarer und leichter
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