Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das Mädchen verschwunden. Erneut probierte sie, sich aufzurichten, und dieses Mal gelang es ihr. Taumelnd machte sie einen Schritt vorwärts, sah sich dabei nach ihrer Gegnerin um und entdeckte sie ein paar Meter abseits des Weges direkt neben dem Torbogen, wie sie sie mit schief gelegtem Kopf beobachtete. Lilly verdrängte das Wissen, dass sie keine Chance gegen solch eine Kreatur hatte, ignorierte die lähmende Angst, die sich in ihr ausbreitete, als sie den starren Blick erwiderte. Sie versuchte zu schreien, aber mehr als ein Krächzen kam nicht über ihre Lippen. Noch immer war ihr ganzer Körper verkrampft.
Sie war keine Kämpferin. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, davonzurennen und sich vor dem Mädchen zu verbergen. Wesen wie sie spielten mit ihren Opfern, quälten sie möglichst lange. Das war ihre Chance.
So schnell sie ihre zitternden Beine trugen, rannte sie zurück zur Schule, nur um zu ihrer Verzweiflung festzustellen, dass die Eingangstür bereits vom hausinternen System verriegelt worden war. Sie wollte fluchen, aber noch immer brachte sie keinen Laut hervor, und ihr Rütteln an der Tür blieb unbeachtet. Vermutlich saßen sie alle in ihren Wohnflügeln in den oberen Stockwerken, hörten laute Musik und achteten nicht auf die Welt vor den dicken Mauern der alten Festung.
Sie drehte sich um, sah das Mädchen mit einem bösartigen Lächeln auf sie zukommen. Sie spielt tatsächlich mit mir – wie die Katze mit der Maus, bevor sie sie tötet. Sollte sie sich darauf einlassen oder sich dem Kampf stellen und auf ein Wunder oder zumindest auf ein schnelles Ende hoffen? Das Zittern ihrer Beine war die Antwort. Sie hatte nicht den Mut dazu, war keine Kämpferin. Zu sehr fürchtete sie die Schmerzen. Was für ein Feigling du bist, dachte sie voller Verachtung, als sie sich abwandte und stolpernd davoneilte.
Mit jedem Schritt merkte sie, wie sich ihre Lunge ein wenig mehr mit Luft füllte, ihre verkrampfte Muskulatur sich lockerte. Neue Hoffnung durchströmte sie, bis sie einen heftigen Schlag in den Rücken bekam und mit einem lauten Aufschrei in den Schnee stürzte. Ihre Nase prallte auf einen Stein, sie hörte ein Knirschen, dann schoss ein stechender Schmerz direkt in ihr Gehirn. Sie rollte sich auf den Rücken, die Hände abwehrend erhoben, aber ihre Verfolgerin war erneut verschwunden. Heiß und klebrig floss das Blut aus ihrer Nase. Sie zwang sich, wieder aufzustehen, weiterzurennen, um ein Versteck zu finden oder einen Bogen zu schlagen und so ins Dorf flüchten zu können.
23
† E ine Wendeltreppe führte in den Tanzsaal hinauf, vorbei an zahlreichen Fenstern, die im dicken Mauerwerk eingelassen worden waren. Das unterste befand sich am Fuß der Treppe, gut verborgen hinter einem schweren Vorhang aus dunkelblauem Brokat, der nun Calista als Versteck diente. Sie saß auf der breiten Fensterbank, die Knie dicht an den Körper gezogen, und sah in die Dunkelheit hinaus. Als die letzte Gruppe Mädchen an ihr vorbeieilte, drückte sie sich noch tiefer in die Schatten, um von keinem flüchtigen Blick entdeckt zu werden. Es war ihre geheime Zuflucht, in die sie sich immer zurückzog, wenn sie es mit den anderen nicht mehr aushielt. Heute wollte sie nicht in ihr Zimmer zurückkehren, zu Isabel, die vermutlich ihren halben Kleiderschrank auf dem Bett ausgebreitet hatte und trotz der Dutzenden Kleider, Tops, Röcke und Jeans von Gucci, Boss, Ed Hardy und wie sie alle hießen darüber jammerte, dass sie nichts anzuziehen hatte.
Allmählich fiel es auch Isabel auf, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Sie konnte sich noch so viel Mühe geben und ihren billigen Nagellack in die leeren Fläschchen teurer Marken umfüllen, manche Kleidungsstücke über Wochen nicht mehr tragen oder gar umnähen, um sie dann als neu auszugeben, oder sogar Etiketten von ihren alten Designerklamotten in neue Billigware einnähen. Selbst ihren Handyvertrag hatte sie gekündigt und nutzte es nur noch mit einer Prepaidkarte. Trotzdem ließ sie es regelmäßig in ihrem Zimmer liegen, gab vor, es zu vergessen, damit sie nicht ständig auf Anrufe und SMS antworten musste.
Bald würden die Gerüchte um den finanziellen Ruin ihrer Eltern auch hier die Runde machen und sie zur Geächteten werden. Sie wusste nicht, was sie mehr fürchtete. Die mitleidigen Blicke und das heimliche Getuschel hinter ihrem Rücken oder die Rache all derer, die nun ihre Chance witterten, ihr eins auszuwischen.
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