Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
Baumreihe von dem Ort, an dem sie Lilly gesehen hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich womöglich selbst in Gefahr brachte, beruhigte sich jedoch sofort wieder. Was sollte ihr schon an der Schule geschehen? Trotzdem tastete sie nach dem Pfefferspray, das sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug.
Endlich erreichte sie die Stelle, doch außer aufgewühltem Schnee und einigen Blutflecken entdeckte sie niemanden. Anscheinend hat sie sich schnell erholt, dachte Calista erleichtert und wollte sich gerade umdrehen, da sah sie, dass die Blutspuren weg vom Internat, tiefer in die Parkanlage führten. Hin- und hergerissen stand sie einen Augenblick still. Selbst Isabels Gesellschaft erschien ihr nun verlockend, aber zugleich nagte die Ahnung an ihr, dass hier etwas nicht stimmte. Vielleicht hatte Lilly einen Schlag auf den Kopf bekommen und irrte nun orientierungslos durch die Kälte. Bis man sie vermisste, wäre sie unter Umständen erfroren. »Verdammte Scheiße«, fluchte sie und begann den Spuren zu folgen. In diesem Bereich war nicht geräumt worden, sodass es einfach war, den Fußabdrücken und Blutsprenkeln hinterherzugehen.
Jeder Schritt brachte sie weiter weg vom Internat und tiefer in die urwüchsigeren Ecken des Parks hinein. Ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in ihr aus, als der harzige Geruch der immer dichter stehenden Bäume an ihre Nase drang und das Platschen von herunterfallenden Schneebrocken zum einzigen Geräusch neben dem Knirschen ihrer Schritte wurde. Sie war kein Naturmensch. War es nie gewesen. Schon als kleines Kind hatte sie nicht nur beim Anblick von Spinnen und Käfern so heftig schreien müssen, dass es in atemloses Schluchzen überging, nein, selbst Tiere, für die andere Mädchen schwärmten, wie Hunde, Pferde und Rehe, erfüllten sie mit Widerwillen. Sie war sicherlich nicht die Richtige, um eine nächtliche Suchaktion zu starten. Sie war kurz davor umzukehren, da hörte sie nicht weit von ihr eine Stimme, deren Ursprung von den tief herabhängenden Ästen verborgen war. Sie rannte los, geriet ins Stolpern und musste sich an einem schartigen Baumstamm festhalten, um nicht zu fallen. Langsam, ermahnte sie sich, während die Wut in ihr hochkochte. Da stapfte sie allein durch die Kälte, obwohl Lilly anscheinend gar nicht in Gefahr war. Vermutlich spielte sie nur irgendein abartiges Spiel mit ihrem Raphael. Dennoch ging sie weiter, fröstelnd im scharfen, kalten Nordwind, der hier in der Nähe des Abhangs an Stärke zunahm. Obwohl sie am liebsten die Arme fest um ihren Körper geschlungen hätte, um jeden Funken Wärme zu speichern, wagte sie es nicht, um sich im Notfall noch rechtzeitig abfangen zu können. Was trieben sie nur so tief im Park? Endlich konnte sie an der letzten Baumreihe vorbei zwei einander gegenüberstehende Gestalten sehen. Mittlerweile befand sie sich auf der Seite der Anlage, die dem Ort abgewandt war und an deren Ende sich eine Steilwand auftat. Bei schönem Wetter konnte man von hier aus über das gesamte Tal blicken, doch in dem Zwielicht gähnte ihr nur Schwärze entgegen. Ein leichter Schneefall hatte eingesetzt, sodass ihre Sicht durch die Flocken verschwommen war. Trotzdem glaubte sie Lilly zu erkennen, die mit dem Rücken zu der niedrigen Steinmauer stand, die sich als Einziges zwischen ihr und dem dahinterliegenden Abgrund befand. Ein Mädchen, das sie nie zuvor gesehen hatte – an diese Locken hätte sie sich bestimmt erinnert –, schritt langsam auf sie zu. Sie wollte ihnen gerade etwas zurufen, ihren Frust entladen, da stürmte das Mädchen nach vorn und versetzte Lilly einen so heftigen Stoß, dass sie rückwärts über das Geländer kippte und mit einem verzweifelten Aufschrei, der Calista für immer verfolgen würde, in den Abgrund stürzte.
»Was zur Hölle …?« Ohne nachzudenken, rannte sie auf die Stelle zu, an der Lilly verschwunden war. Das fremde Mädchen fuhr herum, als es ihre Schritte hörte, bleckte wie ein wildes Tier die Zähne. Abrupt blieb Calista stehen. Wurde sich zum ersten Mal der Gefahr bewusst, in die sie sich gebracht hatte. »Das wagst du nicht«, murmelte sie, war sich ihrer Worte aber noch nie so wenig sicher gewesen. Etwas in der ausdruckslosen Miene dieses Mädchens jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Zitternd trat sie zurück, wäre beinahe gestolpert, als ihre Absätze an einem vom Schnee verborgenen Stein abrutschten.
»Nicht heute«, sagte das Mädchen mit einer tiefen, gutturalen Stimme und
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