Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
zu befriedigen.
Sie wusste, dass keiner ihrer Beschützer mehr an der Schule war. Sie kannte inzwischen fast alle und hatte sogar ihr Versteck entdeckt. Sie waren vorsichtig, aber das half ihnen nicht gegen ihre jahrelange Erfahrung im Aufspüren und Ausspionieren von Sternenseelen. Leider war das nicht ihre Aufgabe – ihren Unterschlupf zu finden und sie zu vernichten. Mit solch einfachen Aufträgen wurde sie nur selten betraut. Nein, sie sollte ihnen ihr Geheimnis entlocken. Den Grund, der sie dazu veranlasste, sich an diesem Ort zu sammeln. Dazu musste sie Aufruhr in ihre Reihen bringen, sie schwächen und, wenn sie am wehrlosesten waren, zuschlagen.
Lange Zeit kauerte sie auf dem Hausdach und hing ihren Gedanken nach. Geduld war eine ihrer Stärken. Was kümmerte einen schon die Zeit, wenn einem unbegrenzt viel zur Verfügung stand und man doch nicht wusste, was man mit ihr anfangen sollte? Schließlich endete die Tanzstunde, die Mädchen zogen sich um und verstreuten sich im Gebäude. Sie spannte sich an, als Lilly in ihren Mantel und einen dicken Schal gehüllt das Internat verließ. Mit Genugtuung registrierte sie, dass das Mädchen erschöpft wirkte, auch wenn es die ohnehin schon leichte Jagd erleichterte. Lautlos kroch sie über das Dach, hangelte sich von Fenstersims zu Fenstersims, bis sie mit der Wendigkeit einer Schlange zu Boden sprang. Sie duckte sich in den Schatten, nutzte jedes Auto und Schild als Deckung, um sich einen Vorsprung vor ihrem Opfer zu verschaffen.
Liebe! Sie zischte. Das machte die Sternenseelen so angreifbar. Kaum raubte man ihnen ihre Liebsten, so geriet ihre Welt aus der Bahn, die in einem wilden Taumel ihre ganze Gruppe mit sich reißen konnte. Mit diesem Argument hatte sie sich die Erlaubnis ihrer Herrin zu dieser Tat eingeholt. Dass sie dabei Freude und Genugtuung verspürte, war ein Bonus, von dem sie nichts zu wissen brauchte. Wobei sie befürchtete, dass es ihr nicht verborgen geblieben war. Der Herrin entging nichts.
Sie drückte sich in die Nische des Torbogens und wartete geduldig auf ihre Beute. Heute würde der erste Schlag erfolgen.
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† D ie Kräuterlotion hinterließ ein prickelndes Gefühl auf ihrer Haut, das ihre Lebensgeister weckte. Das Training war hart, aber erfüllend gewesen, und die Ideen für ihre eigene Choreografie nahmen allmählich Gestalt an. Trotzdem litten ihre Muskeln unter der harten Belastung durch die Sondertrainingseinheiten, die sie als Vorbereitung auf die Vorführung einlegten, und die Kampfübungen mit Torge. Sie freute sich auf zu Hause und darauf, endlich ohne Ärger mit ihrer Mutter ausgehen zu können. Immerhin war Samstag. Sie fragte sich, ob sie Raphael bitten sollte, mit ihr ins Madjane zu gehen. Sie wollte mal wieder feiern, zu moderner Musik tanzen und mit ihren Freundinnen außerhalb der Schule quatschen. Sie verbrachte nicht mehr genug Zeit mit ihnen, sodass sie das Gefühl hatte, sich ihnen zu entfremden. Soweit das bei Freundschaften, die erst seit wenigen Monaten bestanden, möglich war. Beim Gedanken an eine durchtanzte Nacht musste sie jedoch gähnen. In Raphaels Arme gekuschelt einzuschlafen hätte auch etwas.
Heute nicht, beschloss sie. Heute würde sie sich mal wieder wie eine normale Jugendliche benehmen und Spaß haben. Sie ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dadurch fühlte sie sich zwar hellwach, fröstelte aber auch. Rasch zog sie ihren Mantel an und wickelte sich ihren Schal eng um den Hals, bevor sie ihre Sportsachen in die Tasche stopfte.
Sie musste nicht mehr lange durchhalten, sagte sie sich. Bald wäre sie mit der Schule fertig und könnte ihr Leben endlich so gestalten, wie sie wollte. Gut, der Gedanke hatte etwas Erschreckendes, doch das Verlockende überwog. Wie auch immer, so jedenfalls konnte es nicht weitergehen. Vor ihrer Mutter wollte sie es nicht zugeben, aber selbst sie erschreckte sich, wenn sie sich im Spiegel sah. Sie war seit ihrer Kindheit mager, inzwischen jedoch standen ihre Schlüsselbeine spitz hervor, und ihre Finger erinnerten an die eines Skeletts, vor allem, da ihre Haut durch das fehlende Sonnenlicht so schrecklich blass war. Selbst Frau Magret hatte sie vor einem knappen Monat zur Seite genommen, um über ihre Essgewohnheiten zu sprechen, und machte regelmäßig Andeutungen. Nur die letzte Woche hielt sie sich zurück. Vermutlich machte sich bei ihr der Stress vor der Aufführung bemerkbar. Zumindest war Lilly jetzt nicht mehr gezwungen, ihr
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