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Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt

Titel: Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Pflieger
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einem Akzent, den Calista nicht einordnen konnte. Dann packte sie das Geländer, schwang sich mit einem eleganten Sprung hinüber und verschwand ebenfalls im Abgrund, nur dass dieses Mal kein Schrei erklang. Dafür stöhnte Calista vor Entsetzen auf, stürzte nach vorn und sah nach unten, doch der in etwa fünfzig Meter Tiefe liegende Wald versperrte ihr die Sicht. Nur einige Äste stachen schwarz hervor, an den Stellen, an denen Lilly aufgeprallt sein musste und den Schnee mit sich gerissen hatte.
    Sie fluchte laut und ausgiebig. Was sollte sie jetzt tun? Sich in Sicherheit bringen? Hilfe holen oder selbst nach Lilly sehen? Und was war mit diesem Rotschopf? Hatte sie tatsächlich vor ihren Augen Selbstmord begangen? Das Adrenalin rauschte durch ihre Adern, drängte jedes Gefühl der Angst zurück. Zuerst wollte sie zum Internat laufen, doch dann brachte sie es nicht fertig, Lilly zurückzulassen. Vielleicht lebte sie noch, und wenn nicht, dann musste sie Gewissheit haben.

24
    † E inige Meter entfernt gab es eine schmale Treppe, die sich den Abhang entlang nach unten wand. Sie ging auf die Stelle zu, schluckte aber beim Anblick der kleinen, von Eis überzogenen Stufen. Sich am Geländer festklammernd, wobei die Kälte in ihre ungeschützten Hände biss, hangelte sie sich mühsam nach unten. Dort stolperte sie durch den tiefen Schnee zu der Stelle, von der sie vermutete, dass Lilly und das Mädchen aufgeschlagen sein mussten. Das Erste, das sie bemerkte, war der metallische Geruch nach Blut, den der Wind mit sich trug. Lilly hingegen entdeckte sie erst, als sie kurz vor ihr stand, woraufhin sie zur Seite taumelte und sich würgend in eine Schneewehe erbrach. Sie schloss die Augen, holte Luft und sammelte sich, bevor sie sich bereit fühlte, sich dem grauenhaften Anblick zu stellen. Lilly lag wie eine zerbrochene Puppe im Schnee, in dem Äste und Nadeln, die bei ihrem Sturz abgebrochen waren, ein wildes Muster zeichneten. Schneeflocken setzten sich auf ihr Gesicht, umkränzten ihre Wimpern mit einem weißen Schleier, während ein Strom von Blut aus einer tiefen Wunde am Bauch floss. Ein Bein lag in einem unnatürlichen Winkel, der in Calista einen neuerlichen Würgereiz hervorrief. Wie versteinert stand sie still, versuchte sich zu überreden, sie zu berühren, sich von dem zu überzeugen, was sie schon längst wusste: Lilly war tot.
    Endlich tat sie den ersten Schritt, sank in die Knie und legte einen Finger an die Halsschlagader, wobei sie sich bemühte, nicht auf die unzähligen Schürfwunden und zerrissenen Kleider zu achten. Da schlug Lilly die Augen auf, holte keuchend Luft, während blutiger Schaum auf ihre Lippen trat.
    »Nein«, wisperte Calista voller Entsetzen. Wie konnte man mit solchen Verletzungen noch leben? Am liebsten wäre sie davongerannt, hätte sich nie mehr umgedreht, aber sie brachte es nicht fertig. Das war kein Spiel, sondern bitterer Ernst, wurde ihr bewusst.
    Ihre Blicke trafen sich, und die unbeschreibliche Angst, die sie in Lillys weit aufgerissenen Augen sah, erschütterte Calista.
    »Ist sie weg?«, keuchte Lilly unter sichtlichen Schmerzen.
    Calista nickte, während sie überlegte, was sie tun sollte. Sie wünschte, sie hätte ihr Handy dabei, doch so blieb ihr nur die Möglichkeit, das Mädchen zurückzulassen, um Hilfe zu holen. »Ich komme wieder. Halt durch!«, flüsterte sie der Schwerverletzten zu.
    »Bleib bei mir«, flehte Lilly mit krächzender Stimme, ihre Hand zuckte wie ein auf dem Trockenen liegender Fisch.
    »Ich muss Hilfe holen.«
    »Zu spät. Ich sterbe.« Sie hustete blutige Blasen.
    »Red keinen Unsinn.« Calista bemühte sich, entschieden zu klingen, aber es gelang ihr nicht. Da war zu viel Blut. Viel zu viel. Niemals würde sie lange genug durchhalten. Trotzdem wollte Calista davonrennen, vorgeben, sie retten zu wollen, während sie doch nur die Flucht ergriff.
    »Bitte«, flüsterte Lilly. »Wir waren nie Freundinnen, aber ich will nicht allein sterben.«
    Calista nickte, hob vorsichtig Lillys Kopf an, wobei sie einen tiefen Schnitt an der Schläfe entdeckte, und bettete ihn in ihrem Schoß. Die Kälte nahm sie gar nicht mehr wahr. Wie absurd, dass ausgerechnet sie hier war, dachte sie. Man sollte im Kreis der Familie und Freunde sterben und nicht in den Armen eines Mädchens, das einem das Leben schwer gemacht hatte. Sie zwang sich zu einem ermutigenden Lächeln. »Ich habe Hilfe gerufen. Bald werden sie da sein.« Die Lüge ging ihr leicht von den

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