Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
sie so gelebt hatte, war schlimm gewesen, aber die Bestie hatte ihren Körper nicht kontrolliert. Trotzdem fiel es ihr schwer, Mitleid mit Amadea zu empfinden. Das Mädchen hatte sie getötet und damit in dieses Chaos gestürzt. Zudem war da noch Raphael, und auch wenn sie zu Beginn dieser Nacht keinerlei Zweifel an seinen Gefühlen für sie gehabt hatte, war sie sich inzwischen nicht mehr sicher, wen er wählen würde, wenn er sich zwischen ihnen beiden entscheiden müsste.
Sie sah auf die Uhr. Drei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Sie musste zittern bei der Vorstellung von dem, was sie am Tag erwartete. Ihr Atem beschleunigte sich, während sie zugleich keine Luft mehr bekam. Sie schloss die Augen, um sich zu beruhigen, aber es wurde nicht besser. Ihre Füße fingen an zu kribbeln, und sie fühlte sich schwindelig. Plötzlich spürte sie eine Berührung an ihrem Rücken. »Beug dich vor und halte deine Hand vor den Mund, atme bewusst ein und aus.«
Tatsächlich half es ihr, und nach einigen Minuten war sie wieder in der Lage, sich aufrecht hinzusetzen. Vor lauter Panik hatte sie nicht darauf geachtet, wer zu ihr gesprochen hatte, doch nun sah sie direkt in Mikaels Augen, der sie sorgenvoll ansah. Von der Wut und Frustration ihrer ersten Begegnung als Zwillingssterne war nichts mehr zu sehen. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte – seine vorherige Reaktion oder die offene Zuneigung, die er ihr nun offenbarte.
»Geht es wieder?«, erkundigte er sich.
Sie nickte zögerlich, suchte den Kontakt mit Raphael, doch der schaute mit zusammengekniffenen Lippen zur Seite. Warum hatte er ihr nicht geholfen? Hatte er sie bereits aufgegeben? So schnell?
»Ich bringe sie nach Hause«, sagte Mikael daraufhin in die Runde. »Wir haben ihr zu viel zugemutet, und sie braucht Zeit, um sich auf den Tag vorzubereiten.«
Zu ihrem Entsetzen musste Lilly feststellen, dass alle ihren Zusammenbruch miterlebt hatten. Was für ein Anfang! Sie mussten sie für eine absolute Versagerin halten.
»Aber was ist mit der Besprechung?«, wandte sie ein. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
Fynn zuckte mit den Schultern. »Wir müssen abwarten und die Augen offen halten. Madame Favelkap besorgt uns die Einwohnerliste von Aurinsbach und eine Liste sämtlicher Schüler und Beschäftigter des Internats. Dann sehen wir weiter.«
»Du meinst, dass du warten willst, bis jemand verschwindet …«, Lilly stockte kurz, »oder stirbt? Das ist unmenschlich.«
»Wir sind keine Menschen. Oder hast du eine bessere Idee? Unseren einzigen Hinweis auf Lucretia verdanken wir der Aussage einer Sternenbestie, die sie so sehr fürchtete, dass sie sich selbst umbrachte, bevor wir mehr Informationen bekommen konnten.«
»Zumindest wissen wir jetzt, wie ihre Komplizin aussieht«, sagte Ras. »Wir werden nach ihr Ausschau halten.«
»Aber wagt es nicht, sie anzurühren«, erwiderte Fynn mit einer Bestimmtheit in seiner Stimme, die keine Widerrede duldete. »Sie ist gefährlich, und wir brauchen sie lebendig.«
Shioris Augen verdunkelten sich. Sie wird ihm nicht gehorchen, dachte Lilly. Sobald sie eine Gelegenheit sieht, Amadea zu töten, wird sie sie ergreifen. Was würde sie an ihrer Stelle machen? Zu ihrem Schrecken musste sie feststellen, dass sie die Antwort darauf nicht wusste.
»Wie auch immer«, Mikael reichte ihr seine Hand, die sie nach einem letzten Blick zu Raphael ergriff. Seine zahlreichen Ringe drückten hart und warm gegen ihre Haut, während sein Griff zugleich stark und sanft war. »Ich bringe sie nach Hause. Ihr könnt uns morgen über alles informieren.«
Uns , dachte Lilly. Sollte das Uns nicht Raphael und ihr gelten? Wieso waren Mikael und sie nun dieses Uns ? Und warum fühlte es sich gleichermaßen richtig und falsch an?
Da endlich reagierte Raphael. »Ich kenne sie besser. Ich begleite sie.« Doch trotz seiner Worte wich er ihrem Blick aus.
»Das mag sein, aber als ihr Zwillingsstern weiß ich am besten, was sie gerade braucht.«
»Und das wiegt die Vergangenheit auf?«
»Nein«, mischte sich Lilly ein. »Ganz sicher nicht.«
»Dann entscheide du«, sagte Mikael tonlos. »Wer soll dir heute Nacht zur Seite stehen?«
Sie zögerte und spürte Wut in sich aufwallen. Wie konnte er sie vor diese Wahl stellen?
35
† N icht nötig«, meinte Raphael, dann sah er sie zum ersten Mal an, nicht wütend, nein, nur unendlich müde, enttäuscht und … noch immer voller Liebe. »Dein Zögern spricht Bände.« Damit wandte er sich ab und
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