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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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trinken, oder ihr werdet gewiß gestochen werden.
    Hüte dich, meine Herde. Es gibt Plätze auf der Ebene, wohin ihr nicht gehen dürft. Ätzmittel wurden dort vom Untergrund aufgenommen und sind zur Oberfläche gelangt; eure Fußballen werden davon brennen. Wenn ihr einem solchen Ort nahe seid, werdet ihr ihn durch den staubigen Schimmer in der Luft erkennen, ein Schimmer, der für euch so aussehen wird … seht ihr?
    Hört auf mich, Stuten. Es gibt Jahre, da dürft ihr nicht fohlen. In diesen Jahren hat sich das Ei unzulänglich geformt, und zu empfangen, hieße eine Mißgeburt empfangen. Ihr werdet wissen, daß dies der Fall ist, durch die Enge in eurem Unterleib, wenn sich euer Gefährte nähert. Es wird sich für euch so anfühlen … in dieser Weise .. .
    Hört
zu,
Fohlen. Wenn sich das Ende des Sommers nähert, müßt ihr bestimmte Rinden und Blätter essen, um die Nährstoffe zu ergänzen, die ihr dem frischen Gras entnommen habt. In dieser Zeit wird eine Empfindung hinten in eurer Kehle sein, die sich so anfühlt … in dieser Weise …
    So ging der Unterricht weiter. Der Hengst besaß auch Weisheit, und die jüngeren Tiere erhielten sie von ihm, genau wie die Wächterinnen und ihre Töchter. Als die Belehrung weiterging und der zweite Mond sich erhob, sah Kadura, daß Khira sich auf dem Boden in ihren Umhang gerollt hatte und eingeschlafen war. Der Junge saß, die Hände und Füße flach auf dem Boden, die Aufregungen des Tages noch lebhaft in seinem Verstand, trotz seiner Bemühung, sich zu leeren.
    »Kind, so!« wies Kadura ihn an. »Schließ die Augen, so wie ich es tue, und laß mit jedem Atemzug einen Gedanken dich verlassen. Laß ihn in deinem Atem fortschlüpfen, bis alle fort sind.«
    Alle?
    »Ja, alle. Du mußt deinen Verstand ganz leer werden lassen.«
    Er seufzte, schloß die Augen und ließ den Kopf nach vorn fallen. Er stimmte seinen Atem mit dem Kaduras ab, atmete tief ein und verlängerte die Phase des Ausatmens. Kadura fühlte, wie der Spiegel seiner Gedanken langsam sank. Sein Körper entspannte sich, bis seine Stirn auf den Knien ruhte.
    Türen.
Sie formten sich schwach in seinem Verstand. Sein Körper spannte sich erneut, und die Hände ballten sich.
    »Laß die Türen fort«, wies ihn Kadura an. »Wenn du lernen möchtest, mußt du dich von allem leeren, selbst davon.«
    Er wollte lernen. Er brachte seinen Atem wieder mit ihrem Atem in Einklang; und mit jedem seufzenden Ausatmen wurden die Türen schwächer. Unbewußt öffnete er die Hände und preßte sie auf den Boden. Sein Gesicht war bleich, sein Verstand frei geworden.
    Er war leer.
    Leer – und dann war sein Bewußtsein mit Licht, Gesichtern und Furcht angefüllt. Kadura prallte zurück; sie spürte die Panik des Blutes in ihrem Herzen wogen. Schnell einstürmende Bilder erfüllten den sorgsam geleerten Verstand des Jungen. Er befand sich an einem Ort mit Metallwänden. Er lag auf einem Metalltisch, von Riemen zurückgehalten. Kaltäugige Menschen standen über ihn gebeugt. Sie trugen Schwarz, und ihre Augen waren vom selben Grau wie das der Metallwände. Sie sprachen leise in einer fremden Sprache miteinander. Der Junge lag hilflos auf dem Tisch, einen kürzlichen Nadeleinstich noch frisch im Gedächtnis. Der Stich betäubte ihn und zog ihn fort von den Menschen, die ihn umgaben. Selbst wenn seine Arme frei gewesen wären, hätte er diese Menschen nicht erreichen können.
    Aber sie konnten ihn ohne Mühe erreichen. Er kämpfte darum, seine Augen offenzuhalten; legte sein ganzes Flehen in seinen Blick; in der einzigen Sprache, die er kannte, selbst wenn es keine Sprache war, die sie verstünden.
    Sie würden sie bald genug verstehen, weil jetzt der Metallhelm über seinem Kopf hing; mit Nadeln, die bereit waren, seine Kopfhaut zu durchstechen und seine Gedanken zu stehlen. Verzweifelt bäumte er sich in den Gurten auf. Unbarmherzig senkte sich der Helm. Mit furchtbarer Anstrengung holte er tief Luft, als die Nadeln seine Kopfhaut berührten, und entließ sie in einem Schrei.
    Kadura schauderte, preßte die Brust, und der Junge sprang auf die Füße, durch seinen eigenen Schrei aus der Trance geschreckt. Er starrte wild auf sie hinab, seine Lippen bewegten sich. Dann drehte er sich um, steif, jede Bewegung gezwungen, und rannte vom Unterrichtsplatz.
    Kadura versuchte den krampfhaften Schmerz in ihrer Brust abzuwehren. Hatte er laut geschrien, oder war es ein Schrei in seiner Erinnerung gewesen, der sie beide hatte erstarren lassen?

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