Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Traum von metallischen Stimmen gegeben.
Kaduras Stimmung hob sich, als die Sonne die Ebene erwärmte. Sie erreichten das Lager zur Mittagszeit; Wächterinnen mit Umhängen standen ruhig an den Türen ihrer lehmgemauerten Kefris, hellhaarige Wächterinnentöchter rannten durch das erste, noch spärliche Frühlingsgras, Rotmähnen grasten, und Kadura war der Schutz ihres eigen Kefris willkommen. Sie schob die aufgespannte Haut beiseite, die ihr als Tür diente, und kehrte zufrieden an ihren häuslichen Herd zurück.
Doch Khira war unruhig und nahm bald den Jungen mit sich fort, um mit ihm ihre Lieblingsplätze zu besuchen. Es war fast Abend, als sie zurückkehrten, vom Wind zerzaust und hungrig; sie rochen nach Staub und Rotmähnen. »Mutters Mutter, heute nacht findet ein Unterricht statt. Können wir mit dir kommen?« drängte Khira, als sie durch die Tür gestürmt kam.
Der Junge hielt hinter ihr inne, berührte das grobe Geflecht, das die schrägen Innenwände des Kefris bedeckte, untersuchte die Lampen in ihren Haltern und die weich Matten, die um die Feuergrube gebreitet waren. Da wandte er sich Kadura zu und hob fragend die Augenbrauen.
Werden die Wächterinnen mich zum Unterricht kommen lassen?
In seinem Verstand war das Bild der großen still Frauen, die er an diesem Nachmittag gesehen hatte; das Bild beschatteter und bedrohlicher Gesichter.
Kadura nickte auf seine stumme Frage. »Wir werden gemeinsam zum Unterricht gehen, Khira, wenn du deine Augen noch offenhalten kannst.«
Khira lachte laut auf und ließ sich neben der Feuergrube auf den Boden fallen. Der Wind und die Gesellschaft der Wächterinnentöchter hatten ihren Geist angeregt. »Ich werde nicht einschlafen, Mutters Mutter ...«
»Ja?« Im Geist des Jungen war eine andere stumme und behutsame Frage.
Wenn ich auf diese Weise mit dir reden kann, warum fragt Khira dich dann laut, Kadura?
Kadura lächelte und wies die Frage zurück, obwohl sie zufrieden war: Er hatte erkannt, daß er sie direkt, ohne Worte anreden konnte.
Khira runzelte ungeduldig die Stirn. »Mutters Mutter -wenn Dunkeljunge am Unterricht teilnimmt ...«
Kadura vollendete den tastenden Gedanken an ihrer Stelle. »Wenn er zuhört, wie die Wächterinnen zuhören; und ebenso viele Jahre lang, glaube ich, würde er das gleiche lernen, was sie lernen.«
»Ebenso wie ich lernen würde, wenn ich hierbliebe?«
»Ebenso wie du lernen würdest, wenn du bliebest und auf richtige Weise zuhörtest. Nicht mit den Ohren, sondern mit den Fußsohlen, den Handflächen, dem Mark deiner Knochen.« Sie war sich der entmutigenden Wirkung bewußt, die ihre Worte auf Khira hatten, die sich vorwiegend auf Augen und Gehör verließ. Zugleich spürte sie die wachsende Erregung des Jungen. Er hatte die morgendliche Angst hinter sich gelassen. Der Nachmittag hatte ihn neugierig auf alles gemacht, was die Ebene zu bieten hatte. »Aber zuerst müßt ihr essen, und dann müßt ihr die Abendumhänge anziehen, die ich für euch aus dem Lagerhaus geholt habe. Sonst erkältet ihr euch.«
Sie verließen das Kefri, als Nindra aufging, und wanderten mit den anderen durch das Lager; die Wächterinnen stumm in ihren schweren Umhängen, ihre Töchter liefen lachend umher, das kastanienbraune Haar flatterte wie Seide im Nachtwind. Der Unterrichtsort war ein Areal festgestampften Bodens, ein Stück vom Lager entfernt. Er war graslos und neigte sich sanft einem seichten Becken zu, das mit Quellwasser gefüllt war.
»Wir sitzen hier oben am Abhang«, wies Kadura Dunkeljunge an. »Die Wächterinnen und ihre Töchter sitzen näher am Teich.«
Und sie lernen über die Rotmähnen, indem sie mit ihren Körpern lauschen? Sie lernen ...
»Ich kann dir nicht sagen, was sie lernen, Dunkeljunge. Die Art der Rotmähnen ist die Art der Menschen. Jede Person, die hier lernt, lernt etwas anderes.«
Deshalb sind die Wächterinnen so still?
forschte er rasch weiter.
Weil sie auf die Rotmähnen hören. Sie brauchen niemanden
zum
Reden, wenn sie allein sind. Sie hören die Tiere.
»Du hast heute eine Menge gelernt. Eine Wächterin kann sich darin üben, den Tritt eines bestimmten Tieres innerhalb seiner Herde herauszufinden; und das aus großer Entfernung. Sie kann den Rhythmus seines Herzens überprüfen, die Wallung seines Blutes. Wenn das Tier sich ängstigt oder wütend ist, weiß es die Wächterin. Eine Wächterin kann sogar sagen, welche Stuten lebende Fohlen tragen und welch tote – und wann sie gebären.«
Seine Augen
Weitere Kostenlose Bücher