Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Khira hatte sich nicht gerührt, auch die Wächterinnen oder ihre Töchter hatten sich nicht umgewandt, um zu schauen. Die Belehrung dauerte an.
Gleichgültig, was der Schrei bedeuten mochte. Der Junge sollte sich jetzt nicht selbst überlassen bleiben; aber sie besaß nicht die Kraft, ihm zu folgen. Sein Schrei hatte frische Schwerter aus Eis in ihr Herz getrieben. »Khira ...« Sie hatte kaum noch Luft für die Worte. »Khira – dein Freund braucht dich.«
Khira blinzelte wie eine Eule und kämpfte sich wach »Dunkeljunge?«
»Dein Freund – geh zu ihm. Er ging zum Lager zurück.
Khira brauchte noch eine Weile, um richtig wach zu werden. Dann sagte sie: »Ich werde ihn zum Kefri führen.« Und war gegangen.
Kadura blieb am Unterrichtsort, bis der Schmerz in ihrer Brust nachließ. Dann erhob sie sich und ging langsam zurück zum Lager, noch weniger gewiß als zuvor, daß ihr Herz die Kraft hatte, dem zu begegnen, was sie in dem Junge fand. Große Kälte war in ihrer Brust.
Khira und der Junge kauerten an gegenüberliegende Seiten der Feuergrube, stumm, noch in ihre Umhänge gehüllt. Kadura hielt an der Tür inne, um sich gegen die Spannung zu wappnen; gegen den Schmerz des Junge gegen Khiras Zorn. Als sie in den Kefri trat, ging sie zuerst zum Jungen. »Du mußt deinen Umhang ablegen, wenn du am Feuer sitzt. Wenn du zu stark schwitzt, wirst du dich erkälten.«
Anstatt ihr zu gehorchen, blickte er erschrocken zu ihr hoch und wickelte sich enger in das Kleidungsstück. Sie las sein Unglück klar in seinem Gesicht. Sie war diejenige, die ihn dazu gebracht hatte, die Türen zum Verschwinden zu bringen; sie war diejenige, die ihn veranlaßt hatte, die Leer zu schaffen, in die die Benderzic eingedrungen waren. Sie war diejenige, gegen die er sich schützen mußte.
Aber sie war auch diejenige, die ihn verstand. Sie verstand die dunklen Erlebnisse, die hinter ihm lagen – in ihrem vollen Ausmaß.
Seufzend setzte sich Kadura an seine Seite. »Ja – zu gut. Ich verstehe zu gut, wogegen du dich zu schützen versuchst.« Weil sie nicht nur das Grauen des Helms eingefangen hatte, sondern die tieferen Schatten dessen, was mit ihm geschehen war; wie er gegen Menschen benutzt worden war, die ihm Essen und Trost gegeben hatten.
Er starrte angespannt zu ihr empor, und sie las den Konflikt in seinen Augen. Er wollte ihr nichts sagen. Aber der Schrecken lastete schwer auf ihm, und wenn er ihn nicht in Worte auflösen könnte ...
»Nicht mich –
ihn«,
sagte er und preßte ihre Hand. »Ich habe
ihn
zu schützen.«
Dunkeljunge. Kadura berührte seine verhüllten Schultern und versuchte an der Furcht vorbeizugreifen, die ihn spaltete. »Kind, du bist er. Du bist Dunkeljunge.« War er bereit, es zu hören?
»Nein«, sagte er. »Ich bin sein Lenkender. Ich bin derjenige, der ihn schützt. Ich bin es, der die Türen verschlossen hält.«
»Aber möchtest du hinter verschlossenen Türen leben? Ich nehme an, du hast lange genug hinter diesen verschlossenen Türen gelebt. Du bist nicht verantwortlich für den Gebrauch, den die Benderzic von dir machen. Wenn du das, was geschah, akzeptieren kannst ...«
»Nein!«
Kadura zog sich unwillkürlich zurück und versuchte, ihr Herz daran zu hindern, daß es sich bei der Verzweiflung hinter diesem einen Wort zusammenkrampfte. Es war leicht für sie zu sehen, was er tun müßte; aber schwer für ihn, es zu tun. Selbst als sie sorgfältig die Spannung ihrer Schultern und Oberarme lockerte, beobachtete sie, wie er sich von seinem eigenen Gefühl distanzierte. Die Erinnerung wurde grau; das Gefühl verworren.
Sie umklammerte seine Schultern erneut, versuchte ihn zurückzuzerren. »Kind, was beabsichtigst du, wenn du diese Schranken errichtest? Was glaubst du zu erreichen, wenn du dich so weit von deiner Furcht entfernst? Du ...«
»Ich habe keine Angst«, antwortete er mit heiserer Stimme durch die zusammengepreßten Zähne. Schweiß glitzerte ihm auf der Stirn. »Er ist ängstlich – Dunkeljunge ist ängstlich. Ich bin es nicht.«
Khira hatte ungeduldig zugehört. Jetzt schleuderte sie ihren Umhang fort und beugte sich zum Feuer, ihre Augen blitzten. »Dunkeljunge fürchtet sich vor gar nichts. Du bist derjenige, der Angst hat!«
Der Junge starrte über das Feuer hinweg zu ihr, von ihrer Verachtung verletzt, und Kadura fühlte einen neuen Konflikt in ihm. Er wollte nach Khira greifen; wollte, daß sie sich um ihn sorgte, wie sie sich um Dunkeljunge sorgte. Aber er fürchtete
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