Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
wurden die Säuglinge des Jahres auf den Armen ihrer Großväter väterlicherseits in den Thronsaal getragen. Jedes Kind war in sein Investiturgewand gehüllt; vor Jahrhunderten gewoben und seitdem von jeder Generation mit gestickten Wappenbildern verziert.
Der Tanz war so alt wie die Kleider der Tänzer, älter. Er begann mit dem Stampfen der sandalenbekleideten Füße, mit Händeklatschen, feierlichen Schritten und Verbeugungen. Jede Geste war ein stilisiertes Versprechen den Säuglingen und der Gesellschaft gegenüber; ein feierliches Gelöbnis der Anleitung und Fürsorge.
Als der Tanz fortschritt, wurde das Stampfen heftiger, das Klatschen schneller, das Verbeugen und Kopfnicken nachdrücklicher. Nach und nach wurde der Tanz zu einem Versprechen der Tänzer, nicht nur den Säuglingen gegenüber, sondern auch untereinander; Mann zu Frau, Frau zu Mann. Zur Nacht, wenn auf der Plaza Holzrauchfeuer brannten und alle, die ausgewählt worden waren, sich dort versammelten, erhöben sich die Gezeiten, diese süßen inneren Gezeiten; und Mann und Frau überließen sich ihnen voller Freude.
Die Gezeiten stiegen an, und ihre Antwort spräche mehr an als den Körper. Es wäre eine Erwiderung, die die unvereinigten Eigenschaften des Kindes aufriefe, das in dieser Nacht empfangen würde; und drängte auf Vereinigung. Fleisch gäbe nach, Flüssigkeiten flössen, und das Kind spürte den Ruf der Eltern, den Ruf des Lebens. Sperma und Ei übten die ihnen eigene Magie aus, und zwei Hälften würden ein Ganzes.
Wir rufen dich, Kind,
flüsterten die Tänzer klatschend.
Wir rufen dich, Kind. Du bringst uns zusammen. Wir bringen dich zur Vereinigung. Komm, benutz uns als deine Werkzeuge. Komm, erschaff dich aus uns.
Wir rufen dich, Kind,
sangen die Tänzer klatschend.
Wir haben einen Namen für dich. Einen Namen voller Anmut, Kraft und Intelligenz. Komm, schaff dich aus uns.
Wir rufen dich, Kind. Wir haben ein Gewand für dich. Es ist mit dem Garn von Jahrhunderten bestickt. Du wirst ein Faden dieses Garnes sein. Nach dir werden andere sein. Komm!
Der Tanz dauerte an, und das Tal selbst rief. Die Berge riefen. Es gab Wege, die begangen werden, Boden, der bearbeitet werden mußte. Es gab Gewänder, die gewebt werden, Lieder, die gesungen werden mußten. Später würden andere Kinder zur Empfängnis aufgerufen werden.
Die Trommeln steuerten dem Ruf den Herzschlag bei. Die Tänzer wirbelten und klatschten und sangen; Schweiß tränkte ihre bestickten Roben. Spontan wandte sich Khira Tiahna zu. Sie hatte es in jedem Jahr getan, um nach Anzeichen dafür zu suchen, daß die Gezeiten sich auch in Tiahna erhoben.
Es war unsinnig, in diesem Jahr Tiahnas leidenschaftsloses Gesicht zu betrachten. Sie war Tiahnas letzte Tochter. Vielleicht würde es im nächsten Jahr nicht einmal einen Tanz geben. Vielleicht würde im nächsten Jahr ...
Khira spürte des Jungen Hand auf dem Arm. Die ältesten Frauen kamen mit Fackeln aus dem Hintergrund des Saales. Tiahna erhob sich. Auf eine Geste hin drehte der Mann, der die Seile der Thronsaalspiegel hielt, die Spiegel. Schwerter aus Sonnenlicht waren sofort in Scheiden aus Finsternis gehüllt. Nur der Thron gab noch Licht – und die Fackeln gaben Licht.
Die Fackelfrauen schritten zwischen den Tänzern hindurch, Der Widerschein der Flammen war auf ihren verschwitzten Gesichtern. »Wir rufen dich, wir rufen dich!« Die Tänzer sangen lauter und lauter, bis sie schrien; bis der Thronsaal von ihren Anrufen der Gezeiten widerhallte.
Wir rufen dich!
Als die Tänzer den Höhepunkt ihrer Raserei erreichten, preßte Khira die Hand des Jungen. Plötzlich schrien die Tanzpaare noch einmal auf und hielten ihm Schreiten inne. Die Trommeln wurden stumm, als hätte der Herzschlag des Palastes aufgehört. Die Fackelträgerinnen stampften mit den Füßen auf den Boden und stießen ihrerseits ein Geheul aus, während sie auf die Wände des Saales zuliefen, wo Gefäße mit Wasser bereit standen. Sie tauchten die Fackeln hinein. Die Flammen erloschen zischend und dampfend.
Als der Dampf sich im Saal ausgebreitet hatte und den Thron umhüllte, trat Juris Fenilis vor das Podium. »Fackel und Gefäß, verbindet euch heute nacht, wie sich eure Eltern vor euch und andere zuvor ebenfalls verbunden haben. Geht!«
Als die Menschen den Thronsaal verließen, waren die Spiegel erblindet. Tiahna saß schweigend, dunkel gegen das gefangene Sonnenlicht des Thrones, bis jedermann gegangen war. Dann wandte sie sich Khira zu
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