Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
und musterte sie gelassen. »Dies ist dein letztes Jahr, in dem du mit den Kindern am Mittsommerfest teilnehmen kannst, Tochter.«
Khira wich gegen Dunkeljunge zurück. »Es wird kein anderes Jahr geben«, flüsterte sie. Sie hatte nicht erwartet, daß Tiahna so direkt wäre.
»Nächstes Jahr«, fuhr Tiahna fort, als hätte sie es nicht gehört, »wirst du mit den Frauen feiern. Du wirst die Ovulantia trinken, und wenn die Gezeiten entsprechend sind, wir es im Jahr darauf eine neue Tochter im Palast geben.«
Ungläubig trat Khira näher zum Thron. Konnte Tiahna sie mit ungetrübten Augen anschauen und die Wahrheit nicht erkennen? »Nächstes Jahr werde ich tot oder in die Berge verbannt sein!«
Tiahna nahm ihren Ausbruch leicht überrascht zur Kenntnis. Unbewußt umklammerte sie den matten Stein an ihrer Kehle. »Ich glaube nicht, daß du am nächsten Mittsommer entweder tot sein oder in Bergen leben wirst, Tochter. Ich glaube, du wirst hier auf meinem Thron sitzen, während ich zusammen mit Rahela in der Ebene Mittsommer feiere.« Für einen Augenblick streifte ihr Blick Dunkeljunge. »Ich hoffe, dein Freund wird hier neben dir sein.«
Konnte sie es nicht erkennen?
Wollte
sie es nicht sehen? »Ich werde den Thron nie einnehmen!« schrie Khira; Schmerz und aufsteigender Ärger mischten sich in ihrer Stimme. »Wenn ich fähig wäre, die Steine zu beherrschen, wäre mein Herz bereit. Ich wäre zum Training bereit!«
Wieder zeigte sich Tiahna leicht überrascht. »Aber sehr wahrscheinlich bist du bereit zu üben, Tochter.«
»Weshalb? Um zu sterben?« Die Heftigkeit ihrer Antwort überraschte sie. Angesichts Tiahnas höflicher Beharrlichkeit fühlte Khira, wie sich ihre bereits entspannten Muskeln erneut zusammenzogen. War Adar außerhalb der Jahreszeit am Himmel erschienen? »Wenn ich in diesem Zustand zur Probe gehe – voller Furcht –, werde ich niemals zurückkehren.«
Tiahnas Brauen hoben sich. »Also bist du ängstlich, Khira.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Khira starrte zu ihr empor, wollte es abstreiten. Aber gewiß war die Wahrheit offensichtlich. »Ja!« Sie war zornig.
Tiahna schritt über das Podium, ihr Kleid raschelte. Als sie sich umdrehte, war ihre übliche Gelassenheit verschwunden. Zum ersten Mal sprach sie zu Khira wie zu einer Gleichgestellten – wie zu einer jüngeren Freundin, die auch Schwester und Tochter war. »Du bist die einzige Tochter, die es mir jemals gesagt hat, Khira. Du bist die einzige, die stark genug ist, ihre Angst beim Namen zu nennen.«
»Ich bin ...« Khiras Kopf war leer. Stark genug, die Angst beim Namen zu nennen? Wäre sie nur stark genug, sie zu verbergen!
»Khira, du glaubst, der Stein wäre von dir gegangen. Nein; ich bin nicht in deinen Geist eingedrungen. Ich lese einfach in deinem Gesicht. Du hast dein Herz so genau studiert, daß du nicht länger sein Wesen erkennst. Du siehst Verwirrung. Du siehst Angst. Schmerz. Sorge, die dich mit ebensoviel Schmerz wie mit Freude erfüllt. Du siehst eine solche Menge widerstreitender Gefühle in dir, daß du ein wesentliches Element nicht mehr herausfinden kannst: den Mut. Und deshalb denkst du, du wärst schwach.«
»Ich bin es!« gab Khira zu, ein Flüstern. Tränen brannten ihr in den Augen.
»Ja. Du bist so schwach, wie ich es war, als ich mit meinem Training anfing. Genauso schwach, Khira.«
»Nein.«
»Doch. Du bist so schwach wie dein Vater. Ich habe ihn seit zwölf Jahren in dir gesucht; und heute sehe ich ihn. Heute sehe ich deinen Vater, wie er gewesen ist, bevor er zum letzten Mal in die Berge ging. Nein, ich werde dir seinen Namen nicht sagen; und ich werde dir auch den Namen des Tales nicht nennen, in dem er geboren wurde. Er machte dieses Tal für eine kurze Zeit zu seinem Heim, bevor er ging, um neue Adern in den Bergen zu entdecken.«
Khira schnappte ungläubig nach Luft. Gewiß hatte keine Barohna ihrer Tochter jemals so viel über ihren Vater erzählt.
»Er war ein Edelsteinmeister«, begriff sie.
»Ja, und ich vertraue darauf, daß er einen Stein gefunden hat, der ihn zufriedenstellte, als er von hier wegging. Das habe ich stets für ihn erhofft: daß er den Stein in der Hand hielt, als die Lawine ihn erfaßte.« Sie wandte sich um, um den Jungen anzusprechen, der mit fragenden dunklen Augen zu ihr aufschaute. »Eine Barohna wählt ihren Gefährten nicht in der Art, wie es die Frauen in den Hallen tun, Rauth-Sieben. In den Hallen beraten die Familien und studieren
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