Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Stammbäume; und wenn sie ihre Gefährten auswählen, dann nur als Ergebnis einer reiflichen Überlegung. Zum Mittsommer erheben sich die passenden Gezeiten, und die Bündnispartner empfangen. War die Wahl gut, gibt es gesunde Nachkommen, und die Partner erfreuen sich ihrer Paarbildung viele Jahre lang.
Eine Barohna geht anders vor. Sie schaut alle Monate des Jahres hindurch nach einem Mann aus, der ihre Gezeiten ansteigen läßt. Manchmal findet sie ihn beim Mittsommer fest, dann geht sie zu ihm und tanzt mit ihm. Ein anderes Mal findet sie ihn, wenn sie es am wenigsten erwartet; wenn sie über die Felder wandert, wenn sie mit ihren Leuten redet. Ein Mann, der vorher nie von Interesse für sie gewesen war, wird es plötzlich, und sie richtet es so ein, daß sie mit ihm zusammentrifft.
Zuweilen ist sie auf dem Berg allein, wenn sie einem einsamen Linsenpfleger oder einem Hirten begegnet - oder einem Edelsteinmeister.«
Dunkeljunge sprach zögernd. »Edelsteinmeister ... sind die einzigen Männer, die für die Steine empfänglich sind
»Ja. Sie sind die einzigen Männer, die das Gespür für Steine haben, die eine Barohna gebrauchen kann. Len war der erste Edelsteinmeister; aber obgleich er der erste war, nannte er sich nicht so. Und er lebte nicht lange genug um zu sehen, wie die Sonnensteine, die er fand und schließlich letzten Endes benutzt wurden.«
Dunkeljunge nickte. »Weil Niabi, als sie herausfand, sie die Sonne aus den Steinen befreien konnte, ihn in Asche verwandelte.«
»Ja; du hast die Rollen studiert. Niabi hatte nicht die Möglichkeit herauszufinden, was sie mit den Steinen anfangen konnte, bis sie es ausprobierte - und dann war es zu spät , Lensar war tot.«
Tiahna wandte sich an Khira. »Dein Vater kam ins Tal, um mir einen Paarungsstein zu bringen und den alten, unbrauchbar gewordenen zu ersetzen. Als er ihn mir um den Hals legte und als seine Hände mich berührten, wünschte ich mir, der Stein würde mir einen Platz in seinem Denken verschaffen; anstelle von Rahela. Er hatte viel von der Kraft und der Empfindsamkeit einer Frau, und als die Lawine ihn erfaßte, wußte ich es. Ich spürte es durch den Paarungsstein, den er für mich geschliffen hatte. Als er noch lebte, hatte er vorgehabt, einen Augenstein zu schleifen und ihn um den Hals zu tragen, wie ich den Paarungsstein trug. Er wollte ihn immer tragen, wohin er auch ging.«
»Auf diese Art hättest du sehen können, was er sah«, sagte Khira sanft.
»Ja. Ich hätte ihn derart auf allen Reisen begleiten können. Ich wäre überall mit ihm hingegangen; hätte alles gesehen, was er sah. Und wäre er am nächsten Mittsommer ins Tal zurückgekehrt, hätte ich mit ihm getanzt; und du hättest jüngere Schwestern.«
Aber er war nicht zurückgekommen, und die Gezeiten hatten sich für Tiahna nie mehr erhoben. »Aber ich habe noch immer Angst«, sagte Khira.
»Ich bin die meiste Zeit meines Lebens ängstlich gewesen, Khira.«
»Du?«
»Ja; ich fürchtete mich vor jedem Ereignis in meinem Leben. Ich fürchtete, ich würde beim Training versagen und dann bei meiner Probe. Ich fürchtete mich davor, auf dem Thron zu versagen. Dann fürchtete ich, ich würde nie eine Tochter zur Welt bringen, und hatte Angst, die Töchter, die ich gebar, würden nie versteinern; ich fürchtete, Nezra würde dich nicht finden und zum Mittsommerfest herbringen.
Die Probe besteht nicht in der Freiheit von Angst, Khira. Die Probe besteht in der Bekenntnis zur Angst und in der Bereitschaft, mit ihr zu leben.«
»Ja.« Das geseufzte Wort kam von Dunkeljunge. Tiahna quittierte es mit einem Nicken und wandte sich Khira zu - wartend.
Jahrhunderte standen hinter ihrem Warten; und alle Steine Brakraths. Zu Khiras Überraschung spürte sie, wie Angst und das Gefühl der Unzulänglichkeit schwanden und durch ruhige Zuversicht ersetzt wurden. Ihr Vater hatte mit den Steinen gelebt und war mit ihnen gestorben. Tiahna hatte auch mit den Steinen gelebt.
Jetzt war ihre Zeit gekommen. Unbewußt hob sie die Hand zur Brust. Ein Gefühl der Festigkeit war dort und griff nach dem Stein, der plötzlich wieder in ihrem Herzen war. Nicht der Stein der Härte, der Herzlosigkeit. Tiahna war nicht streng und herzlos, obwohl sie in ihrer Einsamkeit oft so erschien. Auch Khira mußte nicht hart und gleichgültig sein, um den Thron einzunehmen.
»Ich bin bereit, mit dem Training zu beginnen«, sagte sie.
Tiahna kehrte auf ihren Thron zurück, ihre sitzende Gestalt hob sich gegen sein
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