Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
nicht. Aber das Schiff sprach in sorgfältig moduliertem Ton. »Rauth-Sieben, du bist aufgerufen«, verkündete es.
Und während sie hinaufschaute, wußte Khira plötzlich, was in des Jungen Verstand vor sich ging. Sie begriff, weshalb er auf das Zusammentreffen an diesem Ort gedrungen hatte. Sie begriff, weshalb er so hoch in Upquirs Schroffen hing. Sie begriff, weshalb er sich von ihr zurückgezogen hatte.
Die Benderzic waren gekommen, um ihn erneut an den Helm anzuschließen; aber es war ihnen gleichgültig, ob sie seinen lebenden Körper zurückbrachten oder nur sein Gehirngewebe; elektrisch zu kurzem Scheinleben gereizt und dann dem Dämmer des Todes überlassen. Alles was sie von ihm wollten, waren die Informationen, die er in den Zellen seines Gehirnes gespeichert hatte.
Und er würde verhindern, daß sie in den Besitz dieser Informationen gelangten. Er würde nicht zulassen, daß sie ihn oder sein sterbendes Gehirn bekämen.
Er war auf Upquir geklettert, und er wußte, wie man fiel. Er würde sich den schroffen Felsen herabstürzen, damit sein Schädel zerschmettert und sein Gehirn zu unbrauchbarem blutigen Schleim würde.
Er hatte seinen Sieg über die Benderzic geplant. Das wesentliche Element in diesem Sieg war sein eigener Tod.
»Rauth-Sieben, deine Brüder rufen dich zu sich«, erinnerte ihn die verstärkte Schiffsstimme. »Die Tür steht offen, und deine Brüder sind versammelt. Deine Brüder erwarten dich, Rauth-Sieben.«
Während Khira zuschaute, erstrahlte das Innere des Schiffes in warmem goldenen Licht. Das Licht war diffus, so als wäre das Schiff von Dunst erfüllt, trieb schwerelos aus der offenen Luke und hüllte die drei schwarzgekleideten Benderzic ein.
Dann erklangen Stimmen, nicht im Chor, sondern wahllos rufend. Stimmen von Männern, Stimmen von Jungen, Stimmen kleiner Kinder. Sie sprachen in einer schmeichelnden, lockenden Sprache. Ihre Botschaft, das begriff Khira, mußte die gleiche wie die der Benderzic sein: Der Junge wurde gerufen.
Gerufen zu dem warmen Licht, zu den verführerischen Stimmen. Khira atmete kaum noch, schaute zu Dunkeljunge hinauf, wo er an Upquirs Felsen klebte. Lockte ihn das goldene Licht? Lockten ihn die Stimmen? Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Die Entfernung zwischen ihnen war zu groß. Aber sie konnte sehen, daß sein Gesicht weiß und angespannt war.
Plötzlich, so als hätte sich ihr Sehvermögen auf Fernsicht ausgeweitet und sie in die Lage versetzt, Einzelheiten zu erkennen, die sie normalerweise nicht unterscheiden konnte, sah sie, wie Dunkeljunges Finger ihren Griff an den Felsen aufgaben und sich lösten. Da erfüllte der Druck in ihrer Kehle den ganzen Brustkorb, drängte die Lungen beiseite,
quetschte die Luft mit heftigem Keuchen hervor. Ihre Rippen knackten laut.
Nein, nicht die Rippen. Es war das Felsgestein der Zinnen, es war der Fels Upquirs, Falsetts und der anderen, der mit lautem Getöse zerbrach und zu fallen, zu stürzen, sich zu verschieben, und zermahlen begann. Khira stand mit offenem Mund, als die Zinnen sich in plötzlicher Raserei schüttelten; Stein für Stein löste sich, und das Gestein brodelte wie Suppe im Kochkessel. Einen Moment lang sah es so aus, als schwebten die Steine aus eigener Kraft in der Luft. Dann schienen sie sich zu einer gigantischen Hand zu formen, die den Jungen auffing, als er fiel.
Betäubt wandte sich Khira um, um nach den Benderzic zu sehen. Wie hatten sie das angestellt – die Gipfel säuberlich zu zerlegen und Dunkeljunge so seines Sieges zu berauben? Aber die Benderzic waren genauso erschrocken wie sie. Sie zogen sich zur Luke des Schiffes zurück, die Gesichter in panischem Schrecken verzerrt, die rollenden Augen jetzt wie gefroren und starr, vorquellend in Entsetzen.
Während sie zuschauten, formte sich eine Steinhand aus dem zweiten Gipfelfels. Sie formte sich unterhalb des fallenden Körpers und ließ ihn unbeschadet zu Boden schweben, obgleich das brodelnde Geröll ringsum durch die Luft prasselte und gegen das Schiff der Benderzic schlug. Von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, trafen die Steine die sich zurückziehenden Benderzic und schlugen sie von den Füßen. Die Benderzic schrien, und die Steine prasselten; ein Nebel aus Blut verbarg die sekundenschnell zerschmetterten Körper.
Mit dem Blut kam weitere Raserei. Khira spürte sie, als wäre sie ihre eigene. Fühlte sie, als wäre sie die Schwester der Felsen, die gegen den Metallrumpf des Schiffes hämmerten –
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