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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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ihre Wut, fegte an ihm vorbei und rannte die Stufen hinauf. Sie fand die Doppeltüren am Ende der Treppe zwar aufgestoßen, aber unbeschädigt. Sie biß sich auf die Lippen. Anscheinend hatte sie vergessen, die Tür zu schließen, als sie das letztemal im Turm gewesen war.
    Aber ganz bestimmt war sie nicht für die zerbrochenen Glasscherben verantwortlich, die über den Boden verstreut lagen, auch nicht für den Brandfleck auf dem Steinboden. Sie blickte zu den zerbrochenen Fensterscheiben, dann schaute sie hinaus auf die grauleuchtende Winterlandschaft. Uber den Steinhallen und dem Palast lag tief der Schnee, und Terlath war nur wenig mehr als ein sich abzeichnender Schatten, in Wolken verloren. Ein merkwürdig schüsselförmig vertieftes Gebiet kennzeichnete die Hauptpalaza, über der ein gefrorenes weißes Laken lag. Ging man von der glänzenden Festigkeit der Kruste aus, so schien es, daß der Schnee bereits geschmolzen gewesen und dann wieder gefroren war. Khira konnte, wenn sie die Augen zu Schlitzen verengte, zwei ähnlich gefrorene Wölbungen in der Entfernung unterscheiden. Sie wandte sich um und fand den Eindringling am obersten Ende der Treppe. Er war schweigend näher gekommen; sein dunkeläugiger Blick war nicht zu deuten, ruhig und leer zugleich. Sie fror, starrte ihn an und versuchte einen Weg zu finden, diese Begegnung auf eine andere, vertrautere, alltägliche Ebene zu bringen.
    Er war nur ein Kind. Sie klammerte sich daran und sprach ihn wie ein solches an. »Diese ganzen Glassteine können jetzt gut als Hüpfsteine dienen. Wenn du Lust hast, mit mir hinunter zu kommen, kannst du deinen Teil tragen.« Sie bückte sich und sammelte die durchsichtig-grauen Scherben auf. Als er sich ihr dabei nicht anschloß, sagte sie schneidend. »Nun?« Diesmal folgte er, ahmte ihr Tun nach, während er sie mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck beobachtete.
    Folglich konnte man sein Verhalten beeinflussen. Als sie ihn die Treppe hinunterführte, arbeitete es heftig in ihrem Verstand. Warum war er gekommen? Waren seine Absichten feindseliger Natur? Wie feindselig konnten die Absichten eines zitternden Jungen in einem dünnen Anzug sein? Ihr erster Gedanke war, ihn von den wichtigsten Räumen im Palast fernzuhalten: vom Thronsaal, dem Schlafzimmer ihrer Mutter, von den Vorratskammern und Küchen, ihn nur die Flure und einige wenige Zimmer sehen zu lassen. Aber ihr zweiter Gedanke war, als sie seinen stetigen Blick im Rücken spürte, ihn durch die Weitläufigkeit und die Bedeutung des Palastes einzuschüchtern. Wenn seine Absichten auf irgendeine Art feindlich waren, wenn er sich dazu gezwungen hatte, sie zu verbergen, dann gab es niemanden, den sie rufen konnte. Aber wenn die Ausdehnung und Erhabenheit des Palastes selbst ihn einschüchterten ...
    Deshalb führte sie ihn, als sie den untersten Teil der Treppe erreicht hatten, direkt in den Thronsaal. Sie schritt ruhig durch die aufragenden Bögen und trat dann zur Seite, um ihm die volle Sicht auf den gemeißelten, schwarzen Thron zu gestatten, der sich auf einem hohen Podium erhob.
    Wenn auch für sie der Raum mit seinen Bögen, Spiegeln, polierten Fliesen und dem dunklen Thron von Macht zeugte, für ihn tat er es anscheinend nicht. Er starrte ohne innere Bewegung auf den dunklen Thron, dann drehte er sich wie ein Automat und blickte im Saal herum. Die stengelerleuchteten Wände und die verdunkelten Spiegel schienen ihn nicht zu berühren. Er hielt die Hände mit den scharfkantigen Glasscherben noch immer steif von sich.
    Sie verkniff sich einen wütenden Blick. Sie hatte noch nie jemanden wie ihn gesehen. Die Kinder aus den Hallen waren kräftig gebaut und hübsch, mit ihren geröteten Wangen und dem dicken weißen Haar, sie hatten tiefe Brustkörbe und blaßblaue Augen. Palasttöchter waren wie sie, Khira; dünn, blaß, mit kastanienbraunen Haaren und bernsteinfarbenen Augen. Und die Rotmähnentöchter der südlichen Ebene ...
    Dieses Kind ähnelte keinem davon. Es war so dünn wie sie, wenn auch ein wenig größer, und eine nervöse Magerkeit war ihm zu eigen. Sein schwarzes Haar war unter den Ohren gerade abgeschnitten, und seine Augen waren so dunkel, daß Khira kaum die Iris von der Pupille unterscheiden konnte. Mit gerunzelter Stirn untersuchte sie ihn Zug um Zug: hübsch geformte Ohren, die am Kopf anlagen, schmale Lippen, eine wohlgeformte Nase, feingebogene Augenbrauen, so dunkel wie sein Haar, eine hohe Stirn und Hände, so schmal wie ihre eigenen, aber

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