Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Füße, dann auf sie. »Ja, jetzt bist du an der Reihe!«
Er nickte, mehr als Zugeständnis an ihren Ärger als einwilligend. Mit einem kaum hörbaren Seufzer hob er den rechten Fuß und hüpfte durch die verstreuten Steine. Seine ersten beiden Sprünge waren erfolgreich. Bei dem dritten verschätzte er sich und landete schwer auf einer großen Scherbe. Er keuchte und blickte vorsichtig zu ihr.
»Mach weiter!« drängte sie; sie schämte sich, daß ihr das Blut heiß in die Wangen schoß. Alzaja würde so etwas nicht geduldet haben. Es war kindisch. Aber Alzaja war nicht hier. »Führ es zu Ende!«
Er zog den Kopf ein und machte weiter; dunkle Flecken kennzeichneten seinen Weg. Als er das Feld der verstreuten Steine verließ, setzte er den Fuß behutsam nieder, seine Lippen zitterten. Ohne wegen weiterer Anweisungen auf sie zu schauen, beschrieb er einen Viertelkreis und wechselte den Fuß.
Er hatte seinen zweiten Durchgang fast beendet, als er stolperte. Er schrie innerlich auf, als er mitten zwischen die verstreuten Steine fiel. Khira trat vorwärts, dann blieb sie stehen. Für einen Augenblick lag er da, als wäre er ohnmächtig. Als er sich wieder aufrichtete, sah er sie nicht an; er blutete aus einem halben Dutzend tiefer Schnitte. Aber er zwang sich auf die Füße und beendete seine Bahn, er bewegte sich sichtlich schmerzvoll und vorsichtig. Dann trat er zitternd fort von den Steinen, und sein Gesicht war aschgrau unter der Färbung. Er blickte hin zu ihr, als erwarte er einen Verweis.
Khiras Reue kam umgehend. Sie mußte jetzt ihr eigenes Verhalten kontrollieren, und sie hatte in ihrer Pflicht versagt. Sie drängte ihn rasch auf eine Steinbank und untersuchte seine Verletzungen. Er zitterte unter ihren Berührungen. »Bleib hier. Ich hole Salbe aus dem Verbandskasten.«
Als sie zurückgekehrt war, strich sie ihm Salbe auf die Schnitte und betupfte seine befleckte Kleidung mit einem feuchten Tuch. Dann schaute sie auf sein Gesicht und fühlte das Gewicht der Verantwortung, das sie trug. Egal, wie er hierhingekommen ist; egal, was immer seine Absicht ist; er war allein an einem unbekannten Ort. Und sie war die einzige Person, an die er sich wenden konnte. »Bist du hungrig?« wollte sie wissen.
Als er ihr nicht antwortete, berührte sie ihre Lippen und schlug sich auf den Bauch, die Augenbrauen fragend erhoben.
Er biß sich auf die Lippe, so als wäre er zu ängstlich, zu antworten. Dann imitierte er zögernd ihre Gesten und achtete genau auf ihre Reaktion.
»Hung-rig«, sagte sie noch einmal deutlich. Noch zweimal wiederholte sie das Wort, berührte dabei wieder Lippen und Magen und betrachtete ihn aufmerksam. Plötzlich schien es ihr wichtig, daß er antwortete.
Als er es schließlich tat, war seine Stimme tief, seine Ausdrucksweise fremd. »Hungrig.«
Ein einfaches Wort; das erste, das sie seit sechzehn Tagen gehört hatte. Sie gab all ihre Zurückhaltung auf.
»Hungrig!«
Freudig erregt sprang sie auf die Füße. Durch ein Wunder waren die langen Tage der Stille gebrochen. Sie brauchte nicht mehr auf die Geister in den schattigen Korridoren zurückzugreifen. Sie hatte einen Gefährten. Als sie ihn den Flur hinunterführte, plapperte sie in einem fort; die Worte sprudelten über. »In der Küche ist Feuer, weißt du, in dem kleinsten Herd. Ich habe es am Brennen gehalten. Wir können alles, was wir mögen, aus der Vorratskammer holen. Es ist Brot da, Käse, sogar geröstetes Geflügel ist im Eisschrank.« Sie hatte jemanden, mit dem sie sprechen konnte; jemanden, der zu ihr sprach, während der langen frostigen Monate, die bevorstanden.
Die Küche lag tief, die großen Festöfen darin waren jetzt kalt, in den Dutzend Vorratskammern war es still. Khira entzündete Heizlampen. Als sie sie aufhängte, huschten die Blicke des Eindringlings über die im Schatten liegenden Speiseschränke; seine Nasenlöcher bebten. Für einen Augenblick waren sowohl Leere als auch Vorsicht aus seinen Augen verschwunden. Er ging schnell auf die Vorratskammer zu, wo Laibe köstlichen Frühlingsbrotes für das Frühlingserwachen gestapelt lagen. Kurz vor der Tür zur Vorratskammer hielt er inne und wandte sich um, achtete darauf, was sie tat, und leckte sich nervös die Lippen.
Dachte er, sie würde ihn hungern lassen? »Es ist schon in Ordnung. Ich esse immer etwas von dem Frühlingsbrot, während die Leute schlafen.« Sie holte einen der schweren Laibe und schnitt hinein. Das Brot war angereichert mit ge
trockneten
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