Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
»Ein Augenstein. Die Barohnas benutzten ihn während der unruhigen Zeiten, um die Täler zu beobachten. Zur Zeit benutzt ihn niemand.«
Warum hatte er dann das Gefühl, daß der Stein ihn beobachtete?
Khira kehrte zum Gang zurück, wärmte Nase und Mund mit ihren behandschuhten Händen. Der Lenkende blieb draußen, versuchte das anfängliche berauschende Gefühl von Freiheit wiederzuerlangen. Statt dessen empfand er nur ein Gefühl von Bedrohung.
Als er sich zum Tunnel umwandte, kauerte Khira auf dem Boden, ihr Packen war geöffnet. Sein Packen lag, achtlos hingeschmissen, an einer Mauer hinter ihr. Sie blickte auf und ihm schien, daß sie ihn absichtlich herausforderte, an ihr vorbeizugehen, um ihn zu holen.
»Ich bin hungrig«, sagte er bedrückt.
Ihre Pupillen verengten sich beim rauhen Ton in sein Stimme. »Dann iß.« Aber sie machte keine Bewegung, ihn vorbeizulassen. Er warf einen Blick zu Boden und sah ihren Spieß vor seinen Füßen auf dem Tunnelboden liegen.
Wütend schnappte er ihn sich. »Ich werde meine Mahlzeit jagen.«
Khira sprang auf die Füße, ihr Gesicht war gerötet. »Mit meinem Spieß?«
»Braunhühner. Sie nisten unterm Schnee. Ich werde sie erlegen.« Wenn sie ihn nicht ernähren wollte, dann würde er selbst für sein Essen sorgen.
Ihre Augen glitzerten herausfordernd. »Du weißt nichts über die Jagd auf Braunhühner.«
Doch er wußte es. »Ich weiß, daß man nach einer Stelle Ausschau halten muß, an der drei Schilfrohre aus einer tiefen Schneeverwehung ragen. Dort haben sie ihre Nester gebaut. Ich weiß, daß man den Schnee fortscharren und nach ihrem größten Tier – dem Männchen – stoßen muß. Ich weiß, daß man die Hennen mit den Eiern nicht behelligen darf, wenn zur Brutzeit Junge schlüpfen sollen.«
Khiras Stimme triefte vor Verachtung. »Du weißt, was du in den Schriftrollen gelesen hast! Du hast noch nie in deinem Leben einen Spieß benutzt. Und es jagen Raubtiere in diesem Tal. Es gibt niemanden, der sie hätte vertreiben können. Du würdest nicht mal erkennen, ob welche in der Nähe sind.«
Er war gekränkt. »Denkst du, ich würde keine Spuren im Schnee bemerken?«
»Nicht, wenn es in der letzten Nacht geschneit hätte, und ein Minx lauerte drei Tage hinter einem Felsblock. Sie warten in dieser Zeit des Jahres so lange, mußt du wissen. Und wenn du dich bewegst, wenn ein Minx in der Nähe ist ...« Sie brauchte ihm nichts zu erzählen. Er wußte aus den Rollen von der tödlichen Raserei des Schneeminx. Sein Blick senkte sich.
Mache aus der Furcht ein Werkzeug,
erinnerte er sich.
Diesmal ein Mittel, ihn davon abzuhalten, aus verletztem Stolz etwas Närrisches anzustellen. Er war mit der Erhaltung der Sicherheit des Jungen beauftragt – sogar, wenn er dafür seinen eigenen Stolz opfern müßte. Schweigend legte er Khiras Spieß nieder. »Ich möchte meinen Packen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich werde aus meinem Packen essen.«
Sie schaute ihn zweifelnd an, dann warf sie ihm den Packend zu, die Zähne zu einer wütenden Grimasse zusammengebissen. »Nimm ihn! Und iß am anderen Ende des Ganges!«
Er drehte sich um, ohne zu widersprechen. Doch zog er sich nicht bis zum anderen Ende des Tunnels zurück. Er war ein Dutzend Meter von ihr entfernt, würgte trockenes Brot die trockene Kehle hinunter. Dann, obwohl es erst Mittag war, plumpste er gegen die Höhlenwand und fiel in erschöpften Schlaf.
Außerhalb der Höhlenöffnung war es dunkel, als Khira ihn wachrüttelte, ihm die Finger in die Schultern grub und ihn mit schriller Stimme anschrie. Mit erschrockenem Keuchen setzte er sich auf und versuchte, sich ihrem festen Griff zu entziehen. Aber sie verstärkte ihn nur. Durch die Stengellampen, die sich spärlich an die Höhlendecke klammerten, sah er den wilden Zorn in ihren Augen und die Trän auf ihren Wangen.
»Du bist nicht Dunkeljunge!
Du bist nicht Dunkeljunge!
Das Herz des Lenkenden zog sich zusammen, und Blut wich ihm aus dem Gesicht. Die Art, wie sie über ihm aufragte, die Weise, wie sie ihn hielt ... »Khira ...«
»Ich dachte, du wärest Dunkeljunge und habe nicht verstanden, warum ... warum du dich so benommen hast. Die Art, wie du dich den ganzen Tag über benommen hast. Dann habe ich geträumt. Ich träumte von dir, von deinem Verhalten, als die Arnimi in den Palast zurückgekehrt waren. Ich träumte von deiner Stimme und der Art, wie du gehst ... die Art, wie du heute hingefallen bist. Ich träumte, du wärst gefallen ... und
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