Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
mich lachen, nicht wahr?« sagte er.
»Worüber?« fragte sie schwach. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen, und etwas geriet in ihrem Magen in Bewegung, als er sie erneut herumschwenkte; in einer scharfen Kurve und ohne Vorwarnung. Versuchte er absichtlich, ihr Furcht einzujagen? Um sie vom Lachen abzuhalten? Über was? Sie strich sich mit steifen Fingern die Haare aus dem Gesicht.
Seine Augen verengten sich und nahmen einen intensiven Ausdruck an. »Du wirst nicht lachen, wenn ich dich bitte, mir das Lesen beizubringen?«
Sie sah ihn überrascht an und holte tief Luft. »Lesen? Du kannst schon lesen.« Jedes Kind in den Hallen lernte es, sobald es acht Jahre alt war.
»Ich kann einfache Zeichen entziffern«, sagte er. »Soviel habe ich gelernt, bevor ich zu Komas in die Lehre ging. Ich kann die Stammtafeln lesen, die Ernterollen und die Karten, auf denen die Aussaaten verzeichnet sind. Aber das ist es nicht, was ich lesen will.«
»Aber mehr kann niemand lesen«, wandte sie ein. »Mit Ausnahme der Barohna, ihrer Tochter und den Geschichtshreibern. Und der Richterinnen natürlich.«
Die Menschen der Hallen hatten kein Bedürfnis danach, die Rollenbücherei zu konsultieren. Die dort aufgezeichneten historischen Erzählungen waren im Wort lebendig und wurden in den Hallen von Mund zu Mund überliefert. Sie wurden an der Festtagstafel psalmodiert und gesungen. Sie wurden den kleinsten Kindern als Gutenachtgeschichten erzählt. Jeder kannte sie; die alten und die neueren Geschichten.
»Das ist es nicht, was ich lesen will«, beharrte er, und an den harten Linien um seine Augen sah sie, daß er lange über das nachgedacht hatte, was er als nächstes sagte: »Erinnerst du dich, was du mir gesagt hast, als ich dich fragte, warum du lernen wolltest, Spuren zu lesen? Ich will dasselbe wie du. Ich möchte wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Und ich möchte es nicht nur aus Erzählungen und Liedern erfahren. Ich möchte die frühesten Rollen in den Händen halten. Ich möchte das Pergament berühren, die Tusche riechen und die Zeichen verstehen; und dazu alles, was sich hinter ihnen verbirgt. Ich möchte wissen, wessen Hände sie geschrieben haben. Und danach möchte ich selbst Geschichte aufzeichnen. Seit jenen frühen Tagen hat kein Jäger seine Geschichte aufgeschrieben. Ich möchte meine Geschichte und die Komas aufzeichnen. Und welchen Preis du auch bestimmen willst …«
Welchen Preis? Sie wimmerte unter dem Druck seiner Hand und wollte nicht über Preise reden. Denn sie verstand jetzt, was er meinte. Er wollte hinter die Geschichten der Familien schauen können. Er wollte die Vergangenheit berühren, ihre Witterung aufnehmen und ihre Struktur erkennen. Er wollte die Spuren der legendären Gestalten aus Fleisch und Blut aufnehmen; von dort aus, wo der Mythos seinen Anspruch auf sie gelegt hatte. Denn alles, was in den Hallen gesungen und erzählt wurde, war Legende. Nur die Rollen zeichneten die lebendige Vergangenheit dahinter auf.
Khirsa, die entdeckt hatte, daß die Träume zerbrochenen Schalen entstammten. Tima, die erkannt hatte, daß es für die Vorzeiter nur in der Verwandlung Menschsein gegeben hatte. Noa, die erste Wächterin über die Rotmähnen. Niabe, die erste Barohna, die ihre Stärke nur gefunden hatte, um ihren Liebhaber
zu
ihren Füßen
zu
Asche zerfallen zu sehen.
»Ich werde es dir beibringen«, sagte sie. »Ich werde dich alles lehren, was ich weiß.«
»Und der Preis?« Seine Hand hielt ihre noch immer fest umklammert.
Sie blickte in die aufgehende Sonne, dann wandte sie sich ihm zu und sagte, so leichthin sie nur konnte: »Vermutlich wirst du dich einen Winter lang bei mir in die Lehre begeben müssen. Vermutlich wird es nötig sein, daß du dich für einen Winter in meinen Palast begeben mußt.« Denn wo sonst würde er Pergament, Stifte und Tische vorfinden, auf denen er sie ausbreiten konnte?
»Nur einen Winter lang?« erkundigte er sich, indem er auf ihren neckenden Ton einging.
»Möglicherweise auch länger. Kannst du den Bergen denn im Winter fernbleiben?«
»Wenn ich es nicht aushalten sollte, packen wir eben unser Schreibwerkzeug ein und wandern in den Schnee hinaus.«
»Ja, das machen wir«, lachte sie. »Und du kannst deine Geschichte mit dem Spieß auf Eisplatten schreiben.«
Aber sie konnten nichts von alledem tun, bevor sie sein Versprechen Komas gegenüber erfüllt hatten, erinnerte sie sich, und bei diesem Gedanken wandelte sich ihre Stimmung. Sie
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