Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
jemanden, dem er seine Gedanken mitteilen konnte – und doch überlebt hatte. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie niemals das Leben eines Jägers wählen; nicht, wenn es bedeutete, allein zu sein.
Wenn sie eine Wahl hätte ... Aber sie hatte ebensowenig eine Wahl, wie Tanse sie gehabt hatte, wie Aberra sie gehabt hatte; und wie ihre Mutter sie einst gehabt hatte. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und fing an zu laufen.
Sie sah Juaren nicht vor dem Abend wieder. Tische waren aufgestellt und Scheiterhaufen entzündet worden, und
Rauch schwebte über der Plaza. Reyna verbarg sich im Schatten und sah zu, wie ihre Altersgenossinnen in ihren Festgewändern erschienen; die Stickereien vieler Generationen zogen die uralten Stoffe nieder. Tima, Maffi, Pili – sie erinnerte sich, wie sie mit ihnen lachend die gepflasterten Straßen entlang gerannt war. Sie erinnerte sich, wie sie gemeinsam zugeschaut hatten, wie im Frühjahr Lämmer geboren wurden. Sie erinnerte sich an den Tag, da sie Steine in den Trinkwasserbrunnen geworfen hatten und Richterin Minossa davon erfahren und sie in ihre Gemächer zitiert hatte.
Es waren bittersüße Erinnerungen, denn heute abend tanzten Tima, Maffi, Pili, doch Reyna tanzte nicht. Sie stand im Schatten, beobachtete, wie sich reich gewandete Gestalten durch die Rauchschleier bewegten, die Süße des Feuers rochen und dem Knistern der Scheite lauschten. Endlich, als das Gelächter zu laut und die Feierlichkeit zu fröhlich wurde,
schlüpfte sie in den Palast zurück.
Leere Korridore, vom orangefarbenen Licht der Stengellampen erhellt. Gekachelte Böden, auf denen ihre Schritte widerhallten. Lange Tafeln mit Gerichten, jetzt geplündert. Leere Platten und Krüge überall, selbst auf dem Boden.
Ihre Füße führten sie durch lange Flure zum Thronraum. Dort zögerte sie unter dem hohen Gewölbe und starrte auf den Thron ihrer Mutter. Am Tag, wenn Khira auf dem Thron saß, fingen die hoch an den Wänden angebrachten Spiegel das von den Linsen am Berghang gesammelte und weitergeleitete Licht der Sonne ein und konzentrierten es auf den Thron. War die Barohna auf dem Thron, fing er Feuer und erglühte.
Heute nacht war der Sonnenthron dunkel. Khira war in ihren Gemächern, oder vielleicht beobachtete sie die Tänze vom schattigen Rand der Plaza aus. Reyna wußte, daß sie dieses Jahr nicht tanzen würde. Reynas Vater war in der Wüste, und eine Barohna tanzte mit keinem Mann, der nicht ihr Gefährte werden sollte, oder wie die Bezeichnung lauten mochte.
Aber wenn ihr Vater nicht vorhatte, zurückzukehren ... Reyna sah unbehaglich zum Thron hin, dann schlüpfte sie fort; sie wünschte nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.
Sie wanderte über die Flure, bis sie sich schließlich auf der Plaza wiederfand, hörte dort dem Dröhnen der Trommeln und dem Tremolo der Flöten zu und beobachtete den ständigen Partnertausch. Der Tanz würde Gesprächsstoff für viele Tage liefern. Morgen würden die älteren Frauen Stammbäume zu studieren beginnen, und bald würden sich die Gefährten zusammenfinden, einige für die Dauer der Saison,
andere für das Jahr, wenige für einen noch längeren Zeitraum.
Reyna hatte sich noch nie so allein in der Holzrauchnacht gefühlt. Ach, überhaupt hatte sie sich noch nie so allein gefühlt.
Da erblickte sie Juaren am Rand der Plaza. Der Widerschein des Feuers lag auf seinem Gesicht und ließ sein weißes Haar aufleuchten. Er trug noch immer seine Fellweste, Pelzmütze und Pelzhose, und er sah so einsam aus wie sie. Er wirkte wie einer, der in den hohen Bergen wanderte und niemanden in seiner Begleitung hatte. Er beachtete die Tänzer nicht, als er zwischen ihnen wandelte. Er hielt nicht inne, um der Musik zu lauschen, um die Gewänder mit den schweren Stickereien zu bewundern. Er nahm die Blicke der jüngeren Frauen nicht wahr, die ihm galten, und nicht die unausgesprochenen Fragen der Männer.
Reyna war überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion. Vielleicht regte sie das Aroma des Holzrauches mehr an, als ihr bewußt wurde. Oder vielleicht war es der Rhythmus der Trommeln. Plötzlich war ihr Mund trocken, ihr Herz schlug heftig, und ihr Gesicht brannte. Warum war er gekommen, da er doch gesagt hatte, daß er erst morgen kommen wollte? Hatte er die durch die Bäume treibenden Melodien gehört? Oder den Feuerschein gesehen? War ihm klar geworden – als er dort allein am Anfang des Bergpfades saß –, daß er wieder mit ihr zu reden wünschte? Sie hatten
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