Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
daß Dariims Herz rascher schlug. Ihr Denken wurde von demselben Hunger eines Heranwachsenden geplagt, wie er zuweilen ihren Magen heimsuchte.
Aber auch diese Art von Hunger reizte sie und machte ihr die angeborene Schlauheit ihrer Muskeln bewußt und die durchdringende Schärfe ihrer Sinne. Sie war eine Jägerin der Sithis, Tsuukas Tochter, Faletts Schwester. Sie war lautlos und geschmeidig, ein zähnebewehrter Schatten. Sie bebte vor innerer Freude, als sie durchs Unterholz lief und gleich darauf durch die Bäume am Flußufer schlüpfte. Sie kam am Wasser an und starrte mit gierigen Augen auf ihre Beute.
Sie erblickte Seiden in allen Farben, die im Nachtwind sangen. Ihre leuchtenden Farben spiegelten sich in Dariims Augen wider. Während sie die Farben in sich hineintrank, spürte sie ein unwillkürliches Zucken ihrer Nackenmuskeln, eine bebende Spannung.
Weit und breit war niemand zu sehen. Sie schlüpfte vor. Ihre Finger untersuchten verschiedene Stoffe; suchten nach dem leuchtendsten, dem glattesten und dem, der die wundervollsten Lieder sang.
Sie hatte geglaubt, daß sie sich eine azurblaue Seide wünschte, wie ihre Mutter sie hatte. Statt dessen erregte eine
hellrote ihre Aufmerksamkeit. Ihr Gesang war wie geschmolzenes Sonnenlicht – wie ein zuckendes Energieband –‚ wie ein Teil von Dariims eigenem Geist, dem jemand Farbe und Substanz gegeben hatte.
Der Gesang war rot und lieblicher und anrührender als jeder andere. Die rote Seide griff mit heftigem Kräuseln nach dem Mond, als beabsichtige sie, sein ganzes silbriges Licht für sich einzufangen. Sie war abseits von den übrigen befestigt, wie Dariim sah; eng um einen Pfahl gewickelt und mit Knoten gesichert, wie es Dariim zuvor noch bei keiner gesehen hatte.
Als sie genug gesehen und gehört hatte, zögerte sie nicht länger. Rasch reckte sie sich auf die Zehenspitzen und machte sich an den kniffligen Knoten zu schaffen.
Die Aufgabe stellte sich als leichter denn erwartet heraus. Als sie die ersten beiden Knoten gelöst hatte, schien die Seide selbst mitzuhelfen; das schlüpfrige Gewebe wand und verdrehte sich, bis es die verbliebenen Knoten gelöst hatte. Sobald sie vom letzten Knoten befreit war, wand sich die Seide in Dariims Griff und warf sich wild hin und her. Unwillkürlich fuhr Dariim die Krallen aus.
»Du hast ein Lied für mich«, flüsterte sie heiser und krallte sich in dem glatten Gewebe fest. »Du wirst mich in Träume singen.«
Ungeachtet ihrer barschen Worte durchfuhr sie blitzartig der Impuls, sich vor der unerwarteten Kraft der Seide in acht zu nehmen, mit der sie sich wand und versuchte, ihrem Griff zu entkommen. Von den Seiden ihrer Mutter kämpfte keine einzige; aber es sang auch keine davon mit derartigem Feuer.
Rasch, bevor sich das Gewebe freiwinden konnte, band sie es sich um die Taille, machte drei feste Knoten hinein und zog die freien Enden darunter. Dann ließ sie sich mit einem Gefühl überwältigender Freude auf alle viere nieder und rannte zwischen die Bäume. Sie warf die Pfoten hoch, während sie lief. Sie fuhr mit den Krallen durch die Luft und schlug einen krummen, irrwitzigen Weg ein. Die Seide schlang sich um ihre Taille wie ein Band aus glühender Energie.
Sie wußte, daß sie den Stoff an einen Ort bringen mußte, der weit von allen Nestern der Sithis entfernt war, bevor sie ihn singen lassen konnte. Sie war eine Halbwüchsige ohne eigenen Baum. Sie hatte noch nicht einmal ihren ersten Grasflegel erlegt, und kein Spinner hatte jemals eine Singseide für einen Halbwüchsigen hergestellt.
Besonders keine so ungewöhnliche. Obwohl ihre Enden sorgfältig unter die Knoten gezurrt waren, murmelte sie jedesmal ungeduldig, wenn Dariim eine Stelle überquerte, auf der Mondlicht lag. Und wenn sie dann anhielt und die Seide berührte, wand sie sich unter ihren Fingerspitzen. Von den
Geweben ihrer Mutter benahm sich mit Sicherheit keine auf diese Weise.
Hatte sie sie zu früh vom Fluß fortgenommen? Die Spinner stießen die Seide bei Tageslicht aus, während sie über ihren hölzernen Webstühlen kicherten; zogen die langen Seidenfäden aus ihren Halsdrüsen und färbten sie mit dem Saft ein, der aus ihren Zungen trat. Dann brachten sie die Seide für die ersten Nachtstunden in ihre Nester, wo sie ihre Stimmen
von den Kopiermeistern erhielten, die sie dort verborgen hatten. Endlich wuschen sie den Stoff bei Mondschein im Flußwasser und hängten ihn zum Trocknen auf. Gab es vielleicht noch einen zusätzlichen
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