Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Vorgang, von dem sie nichts wußte; einen Saft oder Speichel, den sie hinzugaben, um die Seiden zahm zu machen?
Wenn es so etwas gab, dann hatte sie die rote Seide mit sich fortgenommen, bevor es bei ihr geschehen war. Sie wand sich an ihrer Taille, als hätte sie einen eigenen Willen.
Aber das bewirkte nur, daß Dariims Blut vor Aufregung rascher in den Adern kreiste. Sie hatte noch nicht ihren ersten Grasflegel erlegt, aber sie hatte eine Singseide, wie sie kein anderer Sithi hatte. Und sie würde die einzige sein, die ihr wildes Lied hörte.
Es gab viele Gegenden des Waldlandes, in denen kein Sithi einen Baum beanspruchte. Eine dieser Gegenden war tief im Herzen des Waldes, dort, wo die ältesten Bäume standen.
Eine andere war in den südlichen Ausläufern dieses Bereiches, wo auf geheimnisvolle Weise Feuer ausgebrochen war und die Bäume in Fackeln verwandelt hatte. Das war Jahre vor ihrer Geburt geschehen. Jetzt kämpften dort Sträucher und weißstielige Schößlinge um Platz und Sonnenlicht, und es gab keinen Baum, der kräftig genug gewesen wäre, um ein Sithinest zu tragen.
Springend, knurrend und jauchzend raste Dariim dem südlichen Ausläufer des Walddickichts zu.
Als sich jetzt Äste in ihrem Fell verfingen und ihre Augen auszukratzen drohten, hatte sie den Nachtalp vergessen. Sie hatte die Fragen vergessen, die sie den Baum hinuntergetrieben hatten. Sie hatte alles vergessen außer der erregenden Energie der Seide um ihre Taille.
Sie zwängte sich durch die kümmerlichen Büsche und hielt nach einem Schößling Ausschau, der kräftig genug schien, den Zug der Seide auszuhalten. Inzwischen hatten sich die Enden des Stoffes gelöst und schlugen ihr heftig gegen die fellbedeckten Flanken.
Sie fand einen jungen Baum, der höher als die anderen war und einen kräftigeren Stamm hatte. Dariim biß sich auf die Lippe und band die Seide von ihrer Taille los, wobei sie sorgsam darauf achtete, daß sie ihr nicht entschlüpfte. Das Gewebe ließ seine Stimme hören, während Dariim sich noch abmühte; sang sein rotes Lied und ließ ihre Finger unter seiner Energie erbeben.
Es wehrte sich, als sie es an dem Schößling festband, schlug wütend nach ihr und behinderte ihre Arme. Aber als sie die dreifachen Knoten fest anzog und zurücksprang, griff die rote Seide nach dem Mond aus, und ihre Stimme erklang hell.
Dariim trat von dem jungen Bäumchen zurück, setzte sich und legte die Arme um die angezogenen Beine.
Höre mich, Seide,
sagte sie leise, darum bemüht, daß ihre Worte die Seide durch das helle Tönen ihres Gesanges erreichten.
Ich bin Dariim, die Tochter Tsuukas, die Schwester FaIetts. Ich bin die geschickteste und geschmeidigste Jung-Jägerin im Wald, und ich will mit dir reden.
Die Seide rauschte, verflocht sich vorübergehend mit sich selbst, aber Dariim vernahm keine Erwiderung.
Höre mich an, rote Seide. Du bist jetzt mein. Ich möchte nicht länger mit anderen Träumen schlafen, nur noch mit Singträumen. Heute habe ich zum Frühstück ein Nest Borkenwühler erbeutet und einen Baumwurf. Morgen will ich einen Grasflegel erlegen; deshalb müssen meine Muskeln stark und meine Sinne klar sein. Ich brauche deine Singträume.
Wenn die Seide es gehört hatte, gab es keine Anzeichen dafür.
Verärgert warf sich Dariim nach vorn; das Mondlicht glitzerte wild in ihren schrägstehenden gelben Augen.
Ich will Singträume von dir, Seide.
Noch immer gab es keine Antwort. Dariim fuhr die Krallen aus und hieb sie zornig in ihre Handflächen. In Gedanken bleckte sie die Zähne. Gab es einen Trick beim Stumm-Reden, den sie nicht kannte? Oder war das Gewebe noch nicht fertig? Hatte sie es zu früh fortgenommen?
Vielleicht war es nachlässig hergestellt worden. Wenn sie es am Fluß gelassen hätte, wäre den Spinnern vielleicht seine Fehlerhaftigkeit aufgefallen und sie hätten es wieder in ihr Schmelzfaß geworfen.
Nein. Diese Seide konnte nicht fehlerhaft sein, sonst hätte sie nicht um so vieles heller und kraftvoller singen können als alle anderen, die Dariim je gehört hatte. Wenn es einen Mangel gab, dann war er in ihr. Sie war zu jung; noch halbwüchsig; sie war noch nicht bereit für das Stumm-Reden und die Singträume. Vielleicht war die Dunkelheit, die sich in ihren Schlaf schlich, gar kein Nachtmahr. Vielleicht war sie etwas gänzlich anderes.
Die Krallen gruben sich tiefer in ihre Hände. Jetzt, wo sie sich Zeit nahm nachzudenken, wurde ihr klar, daß es besser wäre, wenn sie die Seide
Weitere Kostenlose Bücher