Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
in eine wirbelnde, jaulende, sich ständig verändernde Schwärze zu ziehen. Sie winselte – ihre Muskeln versteiften sich – und versuchte, sich fortzuschleppen. Ein panisches Knurren drang ihr gewaltsam aus der Kehle.
Der Klang ihrer eigenen Stimme weckte sie auch diesmal. Sie schreckte von den Seidenstoffen hoch, ihr Fell dampfte vor Schweiß. Sie schüttelte sich und sah unglücklich zu ihrer Mutter; wünschte sich, sie könnte sie wecken, sich an sie kuscheln und von ihr beschützt werden wie ein Säugling.
Aber sie war kein Säugling mehr. Sie war eine Halbwüchsige im siebten Sommer. In wenigen Jahreszeiten würden sie und Falett sich einen eigenen Baum suchen und sich eigene Seiden auswählen. Bei Falett würden es violette, bernsteinfarbene und gelbe sein, denn sie mochte keine leuchtenden Farben und klaren Klänge. Dariim würde smaragdgrüne, leuchtendrote und azurblaue nehmen, und möglicherweise würde sie zusätzlich eine Sternenseide haben, wie ihre Mutter. Aber sie würde ihr nicht oft lauschen. Ihre Stimme war so hart und eindringlich und ließ die Nackenhaare sich aufrichten.
Der Gedanke, wieder zu schlafen, ließ ihr Haar sich ebenfalls sträuben. Verwirrt schlüpfte sie aus dem Bett ihrer Mutter und trottete zu den Singseiden, um sie zu berühren.
Wenn sie erst eine eigene Seide hätte, würde sie sich nicht mehr vor dem Einschlafen fürchten. Wenn sie eine Seide hätte, würde sie die Nachtmahre verscheuchen. Obwohl sie schauderte, wenn sie daran dachte, wie die Arme und Beine ihrer Mutter zuckten, wenn sie in Singträumen versunken war.
Aber nach dem Singträumen schlief ihre Mutter, und am nächsten Tag war kein Wild des Waldlandes sicher vor ihr. Dariim dachte an die Tapferkeit ihrer Mutter, und ihre Augen blitzten auf. Sie fuhr mit den Fingern über die rote Seide und stellte sich vor, wieviel Beute sie schlagen konnte, wenn sie ihre Muskeln gut pflegte. Borkenwühler, Baumwürfe und die kleinen saftigen Krabbler, die sich unter dem abgefallenen Laub verbargen ... ihre Augen flitzten durch das Nest. Wagte sie es, die Seiden zu lösen, obwohl ihre Mutter ganz nahe schlief?
Sie wußte, sie würde es nicht wagen. Aber nach einer kurzen Weile erhellten sich ihre Augen; dann erstrahlten sie bei der großartigen Idee, die Dariim hatte.
Die Spinner hatten heute am Fluß gearbeitet und neue Seiden hergestellt. Dort mußten also jetzt Singseiden zum Trocknen liegen.
Dariim spielte mit der Idee und den vielen Möglichkeiten, die sie beinhaltete, und leckte sich begeistert das Fell. Es würde niemand dort sein, der sie beobachten könnte, wenn sie eine Seide vom Ufer des Flusses nähme. Die Sithis schliefen in ihren Nestern, und die Spinner hatten ihre Nester bereits vor Stunden aufgesucht, unter Kichern und Plappern. Und es gab Stellen im Waldland, wohin sie die Seide mitnehmen und ihrem Gesang lauschen konnte.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr begeisterte sie sich dafür. Sie hatte so viele Fragen. Wie konnte sie sicher sein, Alpträume zu haben, solange sie nicht versucht hatte, sie in Singträume umzuwandeln? Wenn es Nachtmahre waren, hieß das, daß sie inzwischen bereit war, wortlos zu den Seiden zu sprechen, wie ihre Mutter? Sie versuchte, sich eine glatte, kühle, azurblaue Stimme vorzustellen, die in ihrem Kopf erklänge; versuchte, sich vorzustellen, wie sie ihr antwortete. Wonach mochte ihre eigene wortlose Stimme klingen? Ob sie mit ihrer gesprochenen vergleichbar wäre, heiser und zuweilen knurrend? Oder würde sie sich anders anhören?
Schließlich war es die Neugier, die sie vom Baum trieb. Sie war eine Jägerin, keine Beute. Wenn sie nicht schlafen konnte, würde sie wenigstens die Antworten zu ihren Fragen anpirschen; so, wie dunkle Träume sie anpirschten.
Die Baumstämme schimmerten weiß im Mondlicht. Als Dariim durchs Gehölz flitzte, hörte sie von irgendwo übersich eine seidene Stimme und schielte hinauf. Eine einzelne Seidenbahn hing gewunden aus Misaads Nest und streckte sich begierig ins Mondlicht aus. Dariim spiegelte ihr rotes Licht in ihren gelben Augen wider. Plötzlich ungeduldig, fuhr sie sich mit der Zunge über die schmalen blaßrosa Lippen. Dann rannte sie weiter.
Sie vernahm das verführerische Gemurmel von Stimmen, noch ehe sie am Fluß ankam – einen Regenbogenchor; einige der Stimmen trillerten süß und hell, andere erklangen in den
unteren Tonlagen. Ihr Gesang war ohne Worte und hatte keine erkennbare Bedeutung. Dennoch bewirkte er,
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