Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
wirkten argwöhnisch. Erschöpft und verwirrt, wie sie war, konnte sie es nicht über sich bringen, seinen Blick zu erwidern.
»Ich bin müde«, sagte sie ebenso schroff wie Verra zuvor und ging durch die bemalte Metalltür in die mittlere Kabine.
Das Bett war hart. Bettzeug gab es nicht, und sie fand keine Möglichkeit, das grelle weiße Licht zu dämpfen, das von der Decke herabstrahlte. Sie lag lange Minuten unbeweglich, jeder Muskel war angespannt, als könnte sie die
Narsid
allein mit ihrer Muskelkraft sprengen.
Endlich, als das Licht unvermindert auf ihre Augenlider schien und ihre Muskeln sich nicht lockern wollten, holte sie ihren Packen aus dem Hauptraum. Sie stellte ihn neben das Bett und machte ihn auf. Vertrautes Gerät, persönliche Dinge und zusätzliche Kleidung; und die Sternenseide. Seufzend zog sie die Seide heraus und ließ sie durch die Finger gleiten. Sie hob sich sanft schimmernd von ihrem grobgewebten Kleid ab.
Aber als sie aufstand und die Seide in ihrer vollen Länge hochhielt, sprach sie nicht. Die Luft in der Kabine bewegte sich nicht, und das einzige Licht war künstlichen Ursprungs.
Dennoch beruhigte es sie, die Seide in der Hand zu halten. Es erinnerte sie daran, daß sie Brakrath nicht freiwillig aus einer Laune heraus verlassen hatte. Selbst wenn sie nicht von ihrer Suche zurückkehren sollte, war sie aus einem guten Grund aufgebrochen.
Kurz preßte sie das weiße Gewebe in den Fingern. Dann faltete sie es zusammen, räumte es beiseite und legte sich wieder hin. Diesmal schlief sie sofort ein.
Ihre Träume waren flüchtig und verwirrend; sie liefen vor dem Hintergrund bemalter Wände ab. Sie ließ sich von ihnen zu fremdartigen Orten entführen und gab sich Mühe, einen Sinn in den zunehmend wirren Bildern zu erkennen. Sie war erleichtert, als ein leises Klopfen an der Tür die Flut der Traumbilder unterbrach.
»Reyna?« Verras Stimme war gedämpft.
Reyna öffnete die Tür und starrte Verra überrascht an. Die Arnimifrau hatte ihre strenge schwarze Uniform abgelegt. An ihrer Stelle trug sie ein reich besticktes Festgewand von mildem Blau, dessen Falten sich um ihre Füße schmiegten. Die Muster der Stickerei waren kompliziert und fein ausgeführt; sie stellten viele der Symbole und Phantasiefiguren dar, die auch Khira trug. Aber Khiras Festkleid war alt, Jahrhunderte hindurch weitergereicht, und der unmerklich gealterte Stoff war schwer von den Stickereien vieler Generationen. Dieses Gewand war von keiner einzelnen Person geschaffen worden.
Verra sah ihre Verwirrung. »Deine Mutter hat vor einigen Jahren darauf bestanden, mir ein Geschenk zu machen. Ich habe mir dieses hier gewünscht«, erklärte sie. »Natürlich war es mir niemals erlaubt, es zu tragen. Man verlangte von uns, daß wir ständig dieselbe Uniform trugen.«
Dieselbe Uniform – dreißig Jahre lang? »Wie die Frühlingssonne«, sagte Reyna andächtig.
Sicherlich war diese kleine Anerkennung der Verwandlung Verras nach dreißig Jahren angemessen. Die fließenden Linien des Gewandes verbargen den vorgewölbten Unterleib der Arnimifrau, und die Farben machten die Schattierungen ihres Haares reicher. Um den Eindruck zu vervollständigen, hatte sie die schwarzen Striche unter den Augen entfernt und durch feines blaues Geäder ersetzt.
Verra errötete offensichtlich erfreut. »Es ist wohl eher die Herbstsonne, fürchte ich«, sagte sie. »Jetzt habe ich den Weckruf verschlafen, und Juaren ist schon unterwegs, um sich umzusehen. Bist du hungrig?«
Juaren war schon unterwegs? Ohne Führer in dem Labyrinth der Korridore und Passagen? Aber natürlich war es die Art, wie er in den Bergen zu jagen pflegte, Winter und Sommer, und immer allein.
Reyna war überrascht zu merken, daß sie hungrig war. »Ja, werden wir unseren Führer rufen müssen?«
»Ich glaube, daß wir den Weg auch so finden. Ich habe mir den Wegweiser und die Lagepläne auf den Fluren angeschaut. Die meisten der wichtigen öffentlichen Einrichtungen sind zentral gelegen, soviel ist mir noch von meiner ersten Reise her in Erinnerung. Und wenn wir den äußeren Arealen zu nahe kommen – den Wohn- und Anbaugebieten –, werden wir es schon merken, denn sie werden bewacht.«
Bewacht? »Die Menschen, die zur Besatzung des Schiffes gehören ...« begann Reyna unschlüssig.
»Sie mögen es nicht, wenn die Reisenden gelegentlich in den Fluren aufkreuzen, die zu ihren Wohnvierteln gehören.« Sie sah Reynas Kleid an. »Weshalb trägst du nicht den hier
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