Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
nicht möglich, wenn sie wie ein Kind wirkte. »Ich werde meine Kleidung wechseln«, sagte sie noch einmal.
»Und laß mich deine Augen schminken.«
Reyna zog den smaragdgrünen Coverall an und strich den griffigen Stoff an den Hüften glatt. Der Coverall hatte denselben Schnitt wie der, den Reynas Vater getragen hatte, als er auf Brakrath angekommen war. Er war aus feinstem Tuch und maßgerecht geschneidert, so daß er glatt am Körper anlag. Er war völlig frei von Verzierungen, außer einem senkrechten Streifen, der auf beiden Seiten über die ganze Länge ging und sie groß erscheinen ließ.
Als sie angezogen war, bürstete Verra ihr das kastanienbraune Haar und legte es ihr sorgfältig zu einer Rolle oben auf dem Kopf.
»So habe ich meine Haare getragen, als ich jung war«, sagte sie weich und begutachtete den Effekt. »Und ich trug dies an den Ohren.« Sie entnahm einem kleinen Kästchen ein Paar glasklare, geschliffene Steine. »Hier – laß mich sie dir anziehen.«
Sie klemmte sie an Reynas Ohrläppchen, und Reyna starrte sie atemlos in dem kleinen Spiegel an. Die Steine fingen das Licht ein und verstreuten es in unzählige tanzende Sonnenstäubchen. In bezug auf Klarheit und Leuchtkraft übertrafen sie alle Steine aus der Werkstatt eines Edelsteinmeisters.
»Was – was bewirken sie?« fragte sie. Sie vermochte sich den Umgang mit derartigen Steinen durch die richtige Hand nicht einmal vorzustellen.
Verra lachte und trat zurück, um die Wirkung des Schmuckes zu begutachten. »Absolut nichts, Reyna. Alles, was du mit diesen Steinen anstellen kannst, ist, wie eine wohlhabende Frau auszusehen.«
Sachte berührte Reyna einen der Brillanten. Eine wohlhabende Frau? War das die Illusion, die Verra zu schaffen versuchte? War sie so etwas gewesen, bevor sie auf Brakrath gekommen war?
»Als du sie getragen hast, Verra ...«
»Ja. Ich war eine wohlhabende Frau. Oder wenigstens die Tochter wohlhabender Leute. Nicht in einer der größeren Städte, sondern in einer ländlichen Gegend, wo die sozialen Verhältnisse weitaus klarer waren. Deswegen bin ich eine Rebellin, nehme ich an. Weil ich so ganz anders als meine Schiffsgefährten aufgezogen worden bin. Sie wuchsen in amtlichen Kinderheimen auf, aber meine Eltern nahmen mich in ihr Haus und erzogen mich selbst, inmitten meiner Brüder und Schwestern; eine Methode, die fast eine Art Garantie auf Abweichlertum in der einen oder anderen Beziehung darstellt; wenigstens auf Arnim.«
Verra eine Abweichlerin? Eine Rebellin? Einfach deshalb, weil sie Freundschaft erlernt hatte? Weil sie die Überheblichkeit der übrigen Arnimis ablehnte?
»Aber ich bin nicht mehr reich. Ich hatte beschlossen, durch Experimente reicher zu werden, als es mir die Familie hätte bieten können. Vielleicht bin ich es auch geworden. Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich es.« Sie unterbrach sich, unwillig über den Zweifel in ihrer Stimme. »Und jetzt die Augen. Ich habe einen grünen Stift, der genügen sollte. Mach die Augen zu, Reyna.«
Zögernd gehorchte Reyna. Wenige Minuten später betrachtete sie verblüfft den Effekt, den Verra erzielt hatte. Sie hatte ein sorgfältig ausgeführtes Muster asymmetrischer Schlangenlinien auf Reynas Lider gemalt, die in scharfen Bögen zu den Schläfen hin ausliefen. Reyna starrte ihr Gesicht im Spiegel an; die Haare gebändigt, glitzernde Juwelen an den Ohrläppchen, der rätselhafte Blick ihrer Augen aus einer kunstvoll ausgeführten Maske; fast war sie geneigt, sich für die Frau zu halten, die ihr augenblicklich aus dem Spiegel entgegensah.
Niemand beachtete sie, als sie durch die belebten Flure gingen. Niemand zeigte auf sie, flüsterte oder versuchte, sie aufzuhalten. Aber es war jetzt offensichtlich, daß die Nachricht von ihrer Anwesenheit an Bord die Runde gemacht hatte. Während sie Verra in den Bereich der öffentlichen Speisesäle folgte, bemerkte Reyna kurze Seitenblicke aus Dutzenden von Augenpaaren und wurde sich einer erhöhten Aufmerksamkeit und rasch wieder abgewandter Blicke bewußt. Und dank Verras Einweihung war sie sich der Fragen hinter den Blicken bewußt.
Instinktiv wurde ihr klar, welche Erwiderung sie geben mußte. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, einen steten Blick beizubehalten. Die Menschen der Hallen senkten die Augen, wenn sie einander begegneten, und nickten sich der Vorschrift gemäß zu, aber ihre Mutter senkte niemals den Blick. Obwohl sie die gleichen zeremoniellen Redewendungen aussprach wie die
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