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Sternenspiel

Sternenspiel

Titel: Sternenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Fluchtgeschwindigkeiten. Und absolute Ruhe, verglichen mit dem Jump.
    Selbst diese Geschwindigkeit reichte jedoch völlig, wenn eine Tupolew in zehntausend Metern Höhe den rechten Flügel verlor …
    Woran hatten sie gedacht, meine mir unbekannten und jungen Eltern, in dieser letzten Minute, als sich das Flugzeug, nachdem es sich nicht mehr steuern ließ, strudelnd der Erde näherte? An mich, vermutete ich. Daran, welch kluge Entscheidung sie getroffen hatten, mich nicht mitzunehmen.
    Ich zog an der Toilettentür, doch sie war verschlossen. Ich lehnte mich gegen die mit Synthetik bespannte Wand, griff mit der Hand in die Tasche und holte das Photo sowie den dreiundzwanzig Jahre alten Zeitungsartikel heraus.
    Ich wollte mir nicht das Gesicht meiner Eltern ansehen. Das wäre nicht richtig. Vor allem hier und jetzt nicht. Ich betrachtete nur mich, den kleinen und eigenwilligen Jungen, der sich von der Hand seines Vaters losreißen wollte. Denn er, dieser kleine Junge, trug keine Schuld daran, wie ich geworden war …
    Abermals entfaltete ich das spröde Papier. »Der Präsident kondoliert …«
    Warum hatte ich diesen Artikel an mich genommen? Was hoffte ich, zwischen diesen professionellen Beileidszeilen zu finden? Schließlich hatte ich noch nie versucht, Details jener Katastrophe in Erfahrung zu bringen. Und vermutlich hatte ich gut daran getan.
    »Der Vertreter der Russischen Fluglinien lehnte die Version einer Spur in den Kaukasus oder auf die Krim kategorisch ab, betonte jedoch … Eine der Blackboxes konnte bereits sichergestellt werden, zur Zeit befasst man sich mit der Dechiffrierung … Mehr als hundert Tote, darunter auch zwölf Kinder …«
    Bla, bla, bla … Ich weiß, was Mitleid gilt – wenn es von Außenstehenden kommt. Wenn es so zäh vermischt ist mit Neugier, Erleichterung und gerechtem Zorn … auf die Weichensteller. Beziehungsweise in diesem Fall auf die Mechaniker, die die alte Maschine zum Start vorbereitet haben.
    »In Nowossibirsk trafen die Angehörigen der Opfer des Flugzeugunglücks ein. Einer der Ersten war der bekannte Politologe und Publizist Andrej Chrumow, der in der Katastrophe seine ganze Familie verloren hat, seinen Sohn, die Schwiegertochter und den zweijährigen Enkel. Unser Korrespondent hat versucht, ein Interview mit …«
    Bla, bla, bla …
    Ich schloss die Augen.
    Mein guter Korrespondent, da hast du dich getäuscht! Mein Großvater hat mich nicht verloren. Denn ich bin ja hier. Ich stehe hier, in dieser Metallzigarre, die über einem einsamen Obelisken in der sibirischen Taiga dahinjagt. Ich bin am Leben!
    »Wir wollen es nicht riskieren, die Antwort Chrumows zu zitieren. Es dürfte jedoch nicht schwer sein, sich die Reaktion der leidgeprüften Menschen vorzustellen. Schmerz und Verzweiflung …«
    Aber ich bin am Leben!
    Mich gibt es nicht nur auf einem alten Photo! Ich bin aufgewachsen und Flieger geworden! Dem Schicksal zum Trotz, das meine Eltern getötet hat! Allen zum Hohn! Ich bin am Leben!
    »Der Aufprall war von einer solchen Wucht, dass die Identifizierung …«
    »Nein«, flüsterte ich, indem ich den Artikel zerknüllte. Das mürbe Papier riss an den Faltkanten. »Nein!«
    Was für ein Aufprall? Ich lag nicht in diesem Duralsarg!
    Eine Stewardess blieb neben mir stehen und fasste mich am Ellbogen. »Pjotr Danilowitsch? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    Ich schluckte und sah in ihr erschrockenes Gesicht. Sag mal, Mädchen, verstehst du das nicht? Mir kann nicht wohl oder unwohl sein! Mich gibt es nämlich gar nicht! Ich bin irgendwo dort unten, im Geäst der Kiefern und im dichten Gras, in jenem Schlamm, am Boden jenes mit Wasser gefüllten Trichters! Zehn Kilogramm verletzliches Fleisch, die nie zu einem kräftigen Mann herangewachsen sind, um die Träume eines Großvaters zu erfüllen.
    »Pjotr Danilowitsch …« Die Frau wollte mich zum nächsten Sitz ziehen.
    »Es ist nichts …«, hauchte ich.
    »Was heißt das, nichts?«
    »Es ist schon vorbei.« Ich wandte den Blick ab. »Es ist wieder alles in Ordnung. Ich … war etwas verwirrt …«
    Sie sah mich verständnislos an.
    »Verzeihen Sie …« Ich befreite meinen Arm, stieß einen lächelnden Japaner zur Seite und zwängte mich ins Klo. Der Japaner schickte mir rasch eine Entschuldigung hinterher. Ich schlug die Tür hinter mir zu und presste die Stirn gegen den makellos sauberen Spiegel. Im Klo duftete es nach Rosen. In einem Fernseher an der Wand lief ein Zeichentrickfilm – wie eh und je jagte eine

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