Sternenzauber
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Vielen Dank, dass Sie gewartet haben. Tolle Ohrringe! Von Cabochon?«
»Butler and Wilson«, antwortete Clemmie überrascht, schüttelte die schlanke Hand und fragte sich, wie jemand so lange Fingernägel tragen konnte, ohne dass beim Öffnen von Schraubverschlüssen oder beim Geschirrspülen der Nagellack abblätterte. »Ich habe eine Schwäche dafür.«
»O ja, ich auch! Die Klunker von B&W sind einfach himmlisch! Ich bin immer sehr für Glitzersteinchen zu haben! Pardon, ich sollte Sie nicht länger hier draußen in der Kälte stehen lassen. Hoffentlich frieren Sie nicht zu sehr?«
»Nein, geht schon«, antwortete Clemmie und versuchte, das verräterische Zähneklappern zu unterdrücken. »Ich war mir nur nicht sicher, ob ich hier richtig bin.«
Die Blondine stöckelte im Marilyn-Monroe-Stil auf das verlassene Gebäude zu und schloss die blaue Tür auf. »Ich hätte es am Telefon besser erklären sollen – aber ich war davon ausgegangen, dass ich vor Ihnen hier bin. Diese blöden Straßenbauarbeiten machen mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Kommen Sie doch bitte rein.«
Clemmie folgte ihr nach drinnen und fragte sich, ob die Frau für diese verführerisch rauchige Stimme wohl regelmäßig mit Gin und Glassplittern gurgelte. Dann stutzte sie. Irgendein sechster Sinn schlug Alarm, als ihr auffiel, dass die cremefarbene Inneneinrichtung von Nummer 19 so gar nichts mit den Büros gemeinsam
hatte, in denen sie bisher gearbeitet hatte – und angesichts der langen Liste ihrer Arbeitsplätze hielt Clemmie sich diesbezüglich für eine Expertin -, denn es gab keine Schreibtische, keine Computer, keine Telefone und auch keine Mitarbeiter.
In Nummer 19 gab es lediglich zwei Ohrensessel, eine Chaiselongue, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, einen Aktenschrank, eine mit Hieroglyphen bedeckte weiße Tafel, einen reichlich bekritzelten Kalender mit Landschaftsbildern von Berkshire, der noch das Blatt vom August zeigte, ein kleines Fenster, vor dem eine Art Verdunkelungsrollo heruntergezogen war, und eine Videokamera auf einem Stativ.
»Äh …« Clemmie blieb zögernd im Türrahmen stehen. »Vielleicht bin ich hier doch eher falsch.«
Die blonde Frau sah sie besorgt an. »Ich hoffe nicht – auf den ersten Blick würde ich sagen, Sie sind genau das, was wir suchen. Ach, Sie meinen das Büro? Lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Wir benutzen das hier nur als Postadresse. Wir arbeiten von zu Hause aus, und da ist es ganz nützlich, ein separates Büro zu haben, um, na ja, einen seriösen Eindruck zu machen. Hier heben wir nur ein bisschen Krimskrams auf, machen ein paar Termine, so in der Art. Wir sind nicht oft hier.« Sie schaufelte einen Stapel Briefumschläge vom Boden, um das Gesagte zu unterstreichen. »Unsere Firmenaktivitäten gehen anderswo vor sich, aber wir verabreden uns mit potenziellen Mitarbeitern anfangs gerne hier. Und natürlich ist ein Schlupfwinkel immer nützlich, um in Ruhe neue Ideen durchzuspielen – daher das Videoset.«
Clemmie runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier noch immer nicht ganz. Sie erhaschte einen Blick auf den Poststapel, den die Blonde achtlos auf die abgewetzte Chaiselongue geworfen hatte. Auf mehreren der grellfarbenen Umschläge sah man Bilder von langen Stiefeln und Lederhandschuhen und anderem
merkwürdigem Fetischzeug und – o nein! – waren das etwa Lacklederkorsagen? Clemmie spähte noch einmal hinüber. Tatsächlich! Sie atmete scharf ein.
Mindestens die Hälfte der Werbepost für Nummer 19 war eindeutig an ein ganz bestimmtes Gewerbe gerichtet.
Pling! Da fiel der Groschen, und auf einmal passte alles zusammen.
Clemmie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, ich bin ja nicht prüde, und womit andere Leute ihren Lebensunterhalt verdienen, ist deren Angelegenheit – aber selbst wenn ich noch so dringend einen Job suchte, so etwas mache ich nicht.«
Die blonde Frau, die sich in einem der Sessel niedergelassen hatte und Clemmie bedeutete, ebenfalls Platz zu nehmen, zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Wie meinen Sie das? Was machen Sie nicht?«
»Was auch immer das hier werden soll. Wie auch immer Sie es nennen wollen. Sie wissen schon: Modellfotos … Erwachsenenfilme … Hostessenservice … Na ja, diese Videoausrüstung – und diese Prospekte …«
Die Blonde gluckste ein kehliges Lachen. »Ach du liebe Güte! Wie niedlich! Das ist ja mal erfrischend! Leider muss ich Sie da aber enttäuschen …«
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