Sternenzitadelle
Medizinalassistenten der siebten Ebene aufgesucht, einen alterslosen Mann, dessen schamlose Berührungen sie empört hatten.
»Du erfreust dich bester Gesundheit, Schwester Ghë«, hatte er ihr mit einem anzüglichen Lächeln versichert. »Derartige Kommunikationsversuche sind völlig normal und nicht die Frucht eines kranken Gehirns. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Mann, der in dich verliebt ist, es aber nicht wagt, sich dir zu erklären …«
»Glaube mir, Schwester Ghë, vor deiner Schönheit würde
ich niemals aus lauter Schüchternheit einen Rückzieher machen«, hatte er mental hinzugefügt, als hätte ihn der Klang seiner Stimme plötzlich gebremst; ein törichtes Unterfangen, denn die Vigilanten konnten mentale Unterhaltungen viel besser als orale belauschen.
Sie konnte sich an ein langes hartes Anhängsel erinnern, das versuchte, in sie einzudringen, brutale Hände, deren Nägel sie an Brust und Hüften kratzten. Doch sie hatte vergessen, wie sie den Fängen des Medizinalassistenten entkommen war. Nur dass sie daraufhin wieder in ihrer Koje lag, nackt und keuchend, war ihr in Erinnerung geblieben, voller Schuldgefühle und Ekel und dem Bedürfnis zu weinen.
Sie hatte den Mann nicht verraten, aus Angst, die Anschuldigung könne gegen sie verwendet werden. Doch seitdem konnte sie während der Krypto-Zeremonien nicht mehr das Harmonische Virnâ erreichen, jene höheren Sphären des Geistes. Stattdessen war sie in die Abgründe ihrer Seele versunken, wo sie Hass und Zerstörung kennengelernt hatte, Gefühle, deren Kraft sie entsetzte.
Die Ränge des wie ein Amphitheater konzipierten Großen Saals füllten sich langsam. Er befand sich in dem in der Mitte des Zuges gelegenen Raumschiff und bot mehr als hunderttausend Personen Platz, also fast allen in El Guaz er Reisenden. Trotz der roten Sicherheitsleuchten über den vielen Ein- und Ausgängen, die von einem eigenen Generator gespeist wurden, herrschte fast Dunkelheit in dem riesigen Raum, so dass die meisten nicht sehen konnten, welchen Verlauf die Veranstaltung unter Leitung der Zeremonienmeister nahm. Das war nicht weiter schlimm, denn die Reden wurden durch Lautsprecher, die in die Böden der Sitzreihen integriert waren, übertragen.
Ghë nahm in der vierten Reihe Platz. Von dort aus hatte sie eine gute Sicht auf die halbkreisförmige Bühne und auf die dahinterliegenden Sitzreihen der Herrschenden und der Vertreter der einzelnen Kasten. Die Fußböden aus Metall vibrierten unter den Schritten der Ankommenden. Fast alle hatten ihre schönsten Kleider oder Anzüge angezogen, die sie extra für dieses Ereignis reserviert hatten.
Vom ungewohnten Gehen erschöpft, setzte sich Ghë auf ihren Klappsitz und beobachtete die Herrschenden, Männer und Frauen einer Kaste, die seit mehr als zehntausend Erdjahren die Geschichte El Guazers lenkte. Sie hatten ihre Prunkgewänder angelegt, deren Stoffe mit Leuchtfäden durchwirkt waren und kleinste Lichtreflexe auffingen. Ihre wie im Fieber glühenden Augen standen in einem seltsamen Kontrast zu ihren versteinerten Mienen. Über ihnen saßen die Vorstände der anderen elf Kasten: Techniker, Vigilanten, Warner, Erinnerungshüter, Kryptologen, Medizinalassistenten, Nutritionisten, Virnâ-Priester, Astronomen, Recycler und Externe. Sie alle tauschten Blicke aus, weil sie auf der Suche nach Verbündeten waren. Seit über fünfzig SALG-Jahren bekämpften sich die Kasten untereinander, kämpften um Macht und Einfluss auf die Herrschenden.
Als Ghë noch ein Kind war, hatten die Recycler alle Passagiere gezwungen, ihre eigenen Abfälle zu entsorgen und die Rohrleitungen zu reinigen; ein fataler Beschluss, der dazu geführt hatte, dass etwa zweitausend Brüder und Schwestern sterben mussten. Ein paar Jahre später hatten die Warner eine Sintflut von Informationen – die meisten davon völlig überflüssig – auf die Menschen herabregnen lassen, dass sich paranoide Erkrankungen gehäuft hatten
und neue, bisher unbekannte mentale Defizite aufgetreten waren.
Kurz nachdem Ghë die Krypto-Initiation empfangen hatte, beschloss die mit der Wartung El Guazers betraute Kaste der Externen mit dem Einverständnis der Herrschenden, dass jeder Erwachsene dazu verpflichtet werde, die Rümpfe der Raumschiffe zu reinigen. Also hatte sie einen Raumanzug anziehen müssen und mithilfe eines Strahlenzerstäubers die äußeren Bordwände geputzt. Bei dieser Arbeit hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Zug der Raumschiffe von
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