Sternenzitadelle
Duft des Nektars der Harmonie aufstieg.
»Innerhalb jeder Kaste haben wir ein paar Getreue, sogar in der Kaste der Herrschenden. Sie versorgen uns mit Wasser und Nahrung und warnen uns vor den Aktivitäten der Vigilanten. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir uns ausschließlich unseren Visionen widmen konnten …«
Mâa schwieg, legte die Handflächen aneinander, schloss die Augen und schien ihre Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.
Ghë hatte immer etwas über das Leben ihrer Großmutter wissen wollen, die kurz vor ihrer Geburt gestorben war. Doch trotz ihrer vielen Fragen hatte ihre Mutter stets geschwiegen. Jetzt begriff sie deren Schweigen, und sie hatte nun ebenfalls eine Erklärung dafür, warum ihre Eltern sich mit einem Geheimnis umgeben hatten.
Ihre Eltern?
Plötzlich spürte sie hinter sich einen Blick wie ein Brennen. Sie drehte sich um und entdeckte in der Menge die Gesichter ihres Vaters und ihrer Mutter. Deren Augen strahlten vor Liebe und Stolz. Aber selbst das ermutigende Lächeln der beiden konnte die Angst, die in ihr hochkam, nicht vertreiben.
Wenn sie glauben, mich ermutigen zu müssen, dachte Ghë, steht mir eine schwere Prüfung bevor.
Ohne die Augen zu öffnen, fuhr Mâa in ihrer Rede fort:
»Die Kryptogame haben dich als Erwählte bezeichnet. Wir haben sie mehrmals befragt, und jedes Mal haben sie unsere Wahl bestätigt. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Du bist die Erwählte, Ghë.«
Nach dieser Erklärung herrschte angespanntes Schweigen. Ghë wollte protestieren, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, obwohl sie wusste, dass Mâa und ihre Schwestern sich nicht geirrt hatten. Schon immer hatte sie dunkel geahnt, dass ihr ein außergewöhnliches Schicksal beschieden sei, auch wenn sie diesen Gedanken zunächst als kindisch und absurd abgetan hatte. Aber schließlich war ihr bewusst geworden, dass in ihrer Vorstellung von einem erfüllten Leben, Stärke, Einfluss und Ruhm eine große Rolle spielten.
»Die Herrschenden und andere Führungspersonen sind von einem einzigen Gedanken beherrscht: Sie wollen das Kastensystem ebenfalls auf der Erde installieren«, sprach Mâa weiter. Sie haben El Guazers Vision zu ihrem Vorteil interpretiert, und ihre zwölf Erwählten sollen die Speerspitzen ihrer Doktrin sein. Sie kehren als hasserfüllte, stolze Eroberer auf die Erde zurück und sind von demselben Wahn wie einst ihre Vorfahren besessen, der diese ins Exil zwang. Als Erstes werden sie die Kastenlosen zum Erkunden ausschicken und sie dann zu Sklaven machen. El Guazer glaubte, das All würde sie läutern, der Anblick der Unendlichkeit würde sie mit Gelassenheit und Weisheit erfüllen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Die Herrschenden und die Techniker haben den Sauerstoff nicht rationiert, weil es daran mangeln könnte, sondern weil sie von vornherein keine Revolte aufkommen lassen wollten. Die Priester und ihre Anhänger haben sich des Virnâ-Kultes der Harmonie bemächtigt … Aber weder den einen noch
den anderen ist es gelungen, uns von unserem Ziel abzubringen. Wir haben ihre Schwachstellen attackiert, wir haben uns ihrer Überwachung entzogen, wir haben unsere Versammlungen abgehalten, wir haben unsere Feiertage deklariert – und … wir haben dich gefunden!«
Plötzlich senkte Mâa die Stimme: »Höchstwahrscheinlich befinden sich unter den Anwesenden Verräter, Spitzel, die im Dienst der Vigilanten stehen. Selbst wenn es uns gelingt, diese Leute auf eine falsche Fährte zu locken, kennen sie jetzt deinen Namen und wissen, wie du aussiehst. Wir haben mehrmals versucht, mit dir in Kontakt zu treten, doch unsere Freunde haben uns gewarnt, dass solche Versuche von den Vigilanten abgehört werden könnten, deshalb haben wir dich erst im letzten Augenblick kontaktiert. Du darfst auf keinen Fall in die Hände der Herrschenden fallen, denn für diese Leute bist du eine Gefahr. Jemand könnte dich erkennen, und dann würdest du sofort getötet. Sollte das geschehen, wäre die gesamte Menschheit in Gefahr, ausgelöscht zu werden. Du bist unser kostbarster Schatz, kleine Ghë, das Geschenk El Guazers an die Menschen. Und wir werden über dich wachen, damit du dein Schicksal erfüllen kannst …«
Ghë war außerstande, das Geschehen in seiner Wirklichkeit zu begreifen. Mâas Worte schienen ihr wie im Traum gesprochen. Plötzlich war sie zu der Hauptdarstellerin in einem Theaterstück geworden, von dem sie weder Inhalt noch Mitspieler kannte.
»Es steht dir frei, abzulehnen, Ghë. Nur
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