Sternhagelverliebt
Nächstes tat …
Die ganze Zeit, in der ich in der Bar war, saß eine Frau neben mir, die ganz vertieft ein Buch las. Ich versuchte immer wieder, ein Gespräch anzufangen, doch sie ging nicht darauf ein. Vielleicht wollte sie nicht mit mir reden oder sie war zu versunken in ihre Lektüre, aber ich konnte ihr kein Wort entlocken.
Während ich also so dahockte und trank, wurde ich immer wütender, und das Ziel meiner Wut war diese Frau, die so ruhig an der Bar saß, sich zu fein war, um mit mir zu reden, und las und las und las.
Als sie aufstand, um zur Toilette zu gehen, und ihr Buch auf dem Tresen liegen ließ, verspürte ich plötzlich den unbändigen Drang, das Buch zu klauen. Ich wusste, dass es albern war, ich wusste, dass es irgendwie auch verboten war, doch ich hatte einen beschissenen Tag und ich wollte mich dafür rächen.
Als mein Flug aufgerufen wurde, war die Besitzerin des Buches noch immer nicht zurück. Ich suchte meine Sachen zusammen und warf etwas Geld auf die Theke, um für meine Getränke zu bezahlen. Und dann, als ich mich zum Gehen wendete, schnappte ich mir das Buch und steckte es in meine Tasche. Ich achtete darauf, nicht verstohlen über die Schulter zu sehen, und freute mich wie wahnsinnig, weil ich es durchgezogen hatte.
Nimm das, Miss »Ich rede nicht mit jedem«!
Nachdem die Tat vollbracht war, vergaß ich die ganze Episode natürlich sofort wieder. Bis jetzt nach dieser ersten Therapiesitzung.
Das Verlangen nach
irgendetwas,
das schlecht für mich ist, lässt mich auf der Suche nach einem vergessenen Päckchen Zigaretten (Bitte, lieber Gott!) die Tasche durchwühlen, in die ich am Tag meiner Abreise das Buch gesteckt habe.
Ich finde zwar keine Zigaretten, aber ich entdecke 40 Dollar (Volltreffer!) und das Buch, das ich geklaut habe.
Im ersten Moment weiß ich nicht mehr, woher ich es habe, und ziehe es hervor. Dann fällt mir mit einem Mal mein Diebstahl wieder ein. Ach ja. Der Flughafen. Die Drinks. Die Frau.
Tja, vielleicht ist es ja spannende Lektüre?
Ich drehe es um. Es ist
Hamlet. Hamlet?
Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Das ist das Buch, in das die Frau am Flughafen so vertieft war, dass sie sich nicht mit mir unterhalten konnte? Gut, möglicherweise ist es ja eine dieser modernen Nacherzählungen wie
Die Schwester der Königin.
Ich schaue nach, wer der Autor ist. Nein. William Shakespeare. Toll. Es fühlt sich schon zähflüssig an – wie der Film, den Kenneth Branagh gemacht hat. Rory hat mich reingeschleppt, und der Film dauerte ungefähr vier Stunden. Es gab sogar eine Pause.
Ich hatte so gehofft, dass es etwas Unterhaltsames und Lesbares wäre, um die Zeit zu vertreiben. Ich bin mir sicher, dass die hier von uns erwarten, in unserer Freizeit darüber nachzudenken, wie sehr wir unser Leben vermasselt haben. Doch mal ehrlich: Wie lange kann man über so etwas nachgrübeln? Und ich kann auch nicht die ganze Zeit in mein Tagebuch schreiben – egal, wie verrückt DM V N sich in der Gruppentherapie verhält. Dann bleiben mir noch Spaziergänge in den Wäldern, Gespräche, Gespräche und noch mehr Gespräche mit den anderen Patienten und die Besuche in der Bibliothek. Die habe ich mir gestern mal genauer angesehen, und sie ist völlig unnütz. Es finden sich nur unzählige Selbsthilferatgeber in den Regalen. Schon allein die Vorstellung, so etwas zu lesen, und zusätzlich zweimal pro Tag in der Gruppe
und
in der Einzeltherapie noch darüber zu hören, löst in mir den unwiderstehlichen Drang aus, mir mit einem spitzen Gegenstand ein Auge auszustechen.
Wenn mir andererseits vor einer Woche jemand gesagt hätte, dass ich mit dem Gedanken spielen würde, Shakespeare zu lesen, um die Zeit totzuschlagen, hätte ich ihn gebeten, mir noch einen Drink zu bringen. Aber jetzt bin ich hier, und trinken steht nicht zur Debatte – also, warum nicht?
Ich ziehe mich mit dem Buch in eine gemütliche Ecke der Bibliothek zurück, mache es mir bequem und bin überraschenderweise sofort fast versunken.
»Das ist verboten«, sagt eine Stunde später eine Frau zu mir, als Hamlet sich gerade mit dem Geist seines ermordeten Vaters unterhält.
Ich lese weiter. »Was?«
»Das Buch. Es ist verboten.«
Einen Augenblick mal …
Ich blicke auf. DM V N steht vor mir. Oh, mein Gott. DM V N spricht mit mir.
»Wie kann Shakespeare verboten sein?«, will ich wissen.
Sie lässt sich neben mich auf den Sitz fallen und zieht die Beine an, die unter einem kurzen Jeansrock
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