Sternstunde der Liebe (German Edition)
war, ihre Schützlinge in die Freiheit zu entlassen.
Sie ging in den Windfang hinaus, wo die Familie ihre Regenmäntel aufhängte und die Stiefel auszog. An einer Wand war Holz für den offenen Kamin aufgestapelt – Kiefernbretter, mit denen man Wände verkleidete, nachgedunkelt durch das Alter und die salzhaltige Luft. In einem Kupferkessel wurden Kienspäne zum Feueranzünden aufbewahrt, und zwei kleine Hasenställe, die sie aus ihrer Tierarztpraxis mit nach Hause gebracht hatte, standen in der Ecke.
Sie waren mit bunten Stoffen zugedeckt – einem alten Schonbezug für Möbel und einem Vorhang –, um zu verhindern, dass die Tiere Angst bekamen, und Rumer kniete sich hin, um den Stoff vom untersten Käfig zu entfernen. Das kleine braune Kaninchen hatte sich an der Rückwand zusammengekauert. Die hellen Augen starrten sie an, die Barthaare zitterten.
Sie hatte es vor sechs Wochen unweit der Engelsstatue gefunden: Es lag regungslos an der Stelle, wo ihr Garten an den der Mayhews grenzte. Die Spuren der Klauen auf seinem Rücken legten die Vermutung nahe, dass eine Eule das Jungtier erwischt und sich mit ihm in die Lüfte geschwungen hatte. Der kleine Kerl war verwegen genug, sich mit aller Kraft zur Wehr zu setzen, hatte sich losreißen können und war unsanft auf der Erde gelandet. Der Sturz war aus großer Höhe erfolgt, aber Rumer hatte den Lauf eingerenkt, die Schnittwunden genäht, und er hatte überlebt.
»Ach, Rumer«, hatte ihre Mutter einmal gesagt, als sie elf gewesen war und die ganze Nacht bei einem neugeborenen Blauhäher gewacht hatte, der aus dem Nest gefallen war. »Die Natur kann grausam sein – manchmal kommen die Jungvögel krank zur Welt und die Mütter stoßen sie aus dem Nest. Wir wissen es einfach nicht …«
»Ich weiß es«, hatte Rumer stur behauptet. »Er hat nur versucht, ein wenig zu früh zu fliegen. Er wird wieder gesund. Ich gebe gut auf ihn Acht, und dann bringe ich ihn zurück.«
»Er wird nicht mehr angenommen, Rumer«, hatte Mrs. Mayhew, die beste Freundin ihrer Mutter seit frühester Kindheit, zu bedenken gegeben. »Nicht, nachdem er mit Menschen in Berührung gekommen ist.«
»Wird er doch«, hatte Rumer hartnäckig entgegnet und ihm ein Nest in einem alten Schuhkarton gemacht. »Da bin ich mir ganz sicher.«
»Vergiss nur nicht, auf dich selbst Acht zu geben. Hörst du, Liebes? Kleine Mädchen brauchen auch ihren Schlaf.«
Rumer hatte gehorcht, aber innerlich fühlte sie sich so aufgeregt und hellwach, als müsste sie nie wieder schlafen. Doch als sie am nächsten Tag nach dem kleinen Häher sah, fand sie ihn tot im Schuhkarton. Sie fühlte sich, als sei sie innerlich erstarrt, Taubheit breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus, als sie behutsam die Schwingen des Vogels berührte und die gebrochenen Knochen entdeckte.
Zeb hatte ihr geholfen, ihn zu begraben, wie ihr jetzt wieder einfiel: neben der Engelsstatue zwischen ihren Gärten. Während sie auf dem Boden kniete, eine Grube aushob und die frische Erde roch, wusste sie, dass sie alles darüber lernen wollte, wie man Tiere heilte, und sie hatte Zeb zugeflüstert: »Ich werde Tierärztin.«
»Ganz im Ernst, Larkin«, hatte er zurückgeflüstert. »Das war mir schon seit deinem fünften Lebensjahr klar.«
Mit dem Kaninchen in den Händen – dessen gebrochener Lauf nun vollständig verheilt war – ging sie ins Freie. Grillen zirpten im hohen Gras. Auf der anderen Seite des Sunds schrien Seevögel auf dem Heimweg nach Gull Island. Kiefern wisperten im Wind. Ihr Vater schmirgelte noch immer an seinem Boot, behielt seinen Rhythmus unverdrossen bei. Ein Stück weiter die Straße hinunter übte Winnie Tonleitern. Rumer hielt bei dem steinernen Engel an und setzte das Kaninchen inmitten eines Flecks mit glänzend grüner Myrte auf den Boden.
Es verweilte einen Moment, um die Witterung aufzunehmen, dann hoppelte es zielstrebig in den Garten der Mayhews. Rumer versteckte sich im Gebüsch und sah ihm atemlos nach. Ich wusste es, dachte sie. Obwohl es hier Kaninchen in rauen Mengen gab, gehörte dieses zu der alteingesessenen Familie, die unter dem Azaleenbusch hauste, in einem Erdhöhlenbau, der tief ins Riff hineinführte.
Als Elizabeth, Zeb und sie Kinder waren, hatten ihre Mütter ihnen alles über die Tiere beigebracht, die auf dem Kap lebten, über die Bäume und Blumen, die dort wuchsen, die Fische, die in den Gewässern schwammen, und die Sterne, die jede Nacht auf sie herabschienen. Die Mayhews und
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