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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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den Band der dychthonischen Geschichte auf, der sich mit der Neuzeit beschäftigte.
      Das erste Kapitel berichtete von den autopsychischen Bewegungen des 29. Jahrhunderts. Die Ermüdung durch die Allveränderlichkeit war damals so groß gewesen, daß die Idee von der Abkehr vom Körper und von der Beschäftigung mit der Formung des Geistes die Gesellschaft gewissermaßen verjüngte und sie aus dem Marasmus riß. So begann die Wiedergeburt. Ihr standen die Genialiten vor, mit ihrem Plan, alle Lebenden in Weise zu verwandeln. Dieses Vorhaben entfachte im Nu einen ungeheuren Wissensdurst, es interessierte die wissenschaftliche Forschung, führte zu interstellaren Verbindungen mit anderen Zivilisationen, jedoch das lawinenhafte Anwachsen der Kenntnisse zwang zu weiteren Umgestaltungen des Körpers, denn das Wissen fand nun nicht einmal mehr im Bauch Platz; die Gesellschaft genialisierte sich zunehmend, wahre Wellen der Gelehrsamkeit umspülten den Planeten. Diese Renaissance, die den Sinn des Daseins in der Erkenntnis sah, währte siebzig Jahre. Es wimmelte von Denkern, von Professoren, Superfessoren, Ultrafessoren, schließlich auch von Kontrafessoren.
      Und da es immer unbequemer wurde, das mächtiger werdende Hirn auf dem Folger mit sich herumzuschleppen, verwandelte das Leben selbst – nach einer kurzen Phase der sogenannten »Doppeltdenkenden« (sie besaßen zwei körperliche Schubkarren, einen vorderen und einen hinteren, für höhere und niedere Überlegungen) – die Genialiten in Immobilien. Jeder steckte gewissermaßen in einem Turm seiner eigenen Intelligenz, umwunden von den Schlangen der Kabel wie eine Gorgo; die Gesellschaft erinnerte an eine Pflasterscheibe wie Honig gesammelter Weisheit, in der die lebende menschliche Brut stak. Man verständigte sich ohne Leitungen und stattete einander Telebesuche ab; die weitere Eskalation führte zum Konflikt der Verfechter des Vereinigens der individuellen Vorräte mit den Sammlern des Wissens, die jede Information zu ihrem Eigentum machen wollten. Es kam zu den verschiedensten Praktiken: zum Belauschen fremder Überlegungen, zum Abfangen glänzenderer Konzeptionen, zum Anlegen von Gruben unter den Türmen der Widersacher in der Philosophie und in den Künsten, zum Verfälschen der Daten, zum Anzapfen der Kabel und schließlich sogar zu Versuchen, die fremden psychischen Güter samt der Persönlichkeit ihrer Eigentümer zu annektieren.
      Die Reaktion auf all dies war heftig. Unsere irdischen mittelalterlichen Stiche, die Drachen und überseeische Wundertiere darstellen, sind eine Kinderei im Vergleich zu der körperlichen Zügellosigkeit, die den Globus erfaßte. Die letzten Genialiten, halb blind von der Sonne, krochen unter den Ruinen hervor, um die Städte zu verlassen, Einreißer, Strömer und Zersplitterer grassierten in dem allgemeinen Chaos. Es entstanden Vereinigungen von Körpern und Apparaten, die im Buhlen geübt waren (Maschiner, Kahlwagen, Draisiner), höhnische Karikaturen auf die Geistlichkeit tauchten auf – Schabermönch mit Schabernonne – und sogar ein »Raupner« und ein »Bauchstier«.
      Damals verbreitete sich auch das Freisterben, es kam zu einer tiefgreifenden Verkümmerung der Zivilisation. Horden muskulärer Würger poussierten in den Wäldern mit Kriecherinnen herum, in abgeschiedenen Trichtern lauerten Schwabbler. Nichts zeugte mehr davon, daß der Planet einst die Wiege der Vernunft in Menschengestalt gewesen war. In den Parks, in denen Tischunkraut und wilder Tafelaufsatz wucherten, ruhten zwischen den Büschen des Tischtuchstrauchs die Häufer, das heißt wahre Berge atmenden Fleisches. Die meisten dieser monströsen Formen entstanden nicht durch bewußte Auswahl und Planung, sondern sie waren eine grauenvolle Folge von Defekten an körpererzeugenden Maschinen: Sie schufen nicht das, was ihnen aufgegeben worden war, sondern entartete, invalide Ungeheuer. In dieser Zeit der gesellschaftlichen Monstrolyse, wie Professor Grags schreibt, schien die Vorgeschichte eine wundersame Revanche an den späten Nachkommen zu üben, denn das, was dem ursprünglichen Vorstellungsvermögen lediglich als ein Alpdruck der Mythen erschienen war, der Begriff Grauen, wurde in der blind entfachten biotischen Maschinerie zu Fleisch.

      Mit dem Beginn des 30. Jahrhunderts übernahm Dsomber Glaubon die diktatorische Gewalt über den Planeten und setzte innerhalb von zwanzig Jahren eine körperliche Vereinheitlichung, Normalisierung und

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