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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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in der ein Hinweis auf zwei kleine Marsmonde mit all ihren Bewegungselementen enthalten ist, die in jener Zeit niemand kennen konnte, so war das die Folge eines idiotischen Mißverständnisses. Die Orbitaldaten der Marsmonde stellten damals die Erkennungslosung einer Gruppe unserer Kontrolleure in Südengland dar, und einer von ihnen, ein Kurzsichtiger, hielt Swift in einer Schenke für einen neuen Agenten, mit dem er sich dort treffen sollte; er meldete den Irrtum nicht, denn er glaubte, Swift habe nichts von seinen Worten verstanden, indes konnten wir ein paar Jahre später (1726) in der ersten Ausgabe von »Gullivers Reisen« Angaben über jene beiden Marsmonde lesen; die Erkennungslosung wurde sofort geändert, aber der Passus mußte nun schon im Druck bleiben.
      Derartige Lappalien fielen nicht sonderlich ins Gewicht, anders jedoch war es mit Plato bestellt. Stets packt mich Mitleid, wenn ich seine Erzählung von der Höhle lese, in der man mit dem Rücken zur Welt sitzt und an den Wänden kaum ihre Schatten erkennt. Ist es verwunderlich, daß er das 27. Jahrhundert für die einzige authentische Wirklichkeit ansah und daß ihm die primitive Zeit, in der ich ihn gefangenhielt, als eine »düstere Höhle« vorkam? Seine Doktrin über das Wissen, das nur ein »Sich-Erinnern« dessen dar stelle, was man einst, »vor dem Leben«, bedeutend besser gewußt habe, ist eine noch deutlichere Anspielung.
      Indessen brachen immer größere Sorgen über mich herein. Ich mußte Tylla verbannen, weil er Napoleon geholfen hatte, von der Insel Elba zu fliehen; ich wählte diesmal die Mongolei als Ort der Verbannung, denn er hatte in schrecklicher Wut gedroht, daß ich mich seiner noch erinnern werde. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er inmitten dieser Einöden vollbringen könnte, und dennoch hielt er Wort. Als die Projektanten sahen, was geschah, überboten sie sich im Entwerfen immer absonderlicherer Pläne, sie wollten zum Beispiel mit ganzen Chronozügen den Völkern die notwendigen Warenmassen liefern – aber das hätte ja jeden Fortschritt gehemmt. Dann wieder wollten sie eine Million aufgeklärter Bürger aus unserer Gegenwart nehmen und sie im Paläolithikum landen lassen – ein vorzüglicher Gedanke, aber was sollte ich mit der Menschheit anfangen, die dort bereits in den Höhlen saß?
      Die Lektüre dieser Pläne weckte mein Mißtrauen bei der Besichtigung des 20. Jahrhunderts. Hatte man da nicht Massenvernichtungsmittel untergeschoben? Angeblich wollten ein paar Radikale unseres Instituts die Zeit in einen Kreis zwängen, damit die Neuzeit irgendwann nach dem 21. Jahrhundert mit der Vorgeschichte zusammenwachsen konnte. Auf diese Weise sollte sich alles noch einmal, aber besser bewegen. Eine krankhafte Idee, phantastisch, wahnwitzig, aber ich sah schon gewisse Anzeichen der Vorbereitung. Das Zusammenwachsen erforderte ein vorheriges Zerstören der bereits bestehenden Zivilisation, eine »Rückkehr zur Natur«. So nahm denn auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Verwilderung zu, das Rauben und das Sprengen; die Jugend wurde von Jahr zu Jahr zottiger, die Erotik wurde vertierter, Horden Zerlumpter tauchten auf, die mit Gebrüll nicht mehr die Sonne, sondern irgendwelche Sterne oder Stars ehrten, es ertönten Rufe nach der Zerstörung der Technik, der Wissenschaft, und sogar die zu Wissenschaftlern erklärten Futurologen verkündeten – auf wessen Betreiben eigentlich? – eine nahende Katastrophe, einen Nieder gang, das Ende; hier und da baute man sogar schon Höhlen, die man, wohl zur Tarnung, als Schutzräume bezeichnete.
      Ich beschloß also, mich auf die folgenden Jahrhunderte zu konzentrieren, weil mir das Ganze nach Umkehrarbeit roch, das heißt nach einer Arbeit, die die Zeit zur Umkehr zwingt, eben im Sinne der Kreistheorie. Gerade in dieser Phase erhielt ich eine Einladung zu einer außerordentlichen Sitzung des Wissenschaftlichen Rates. Freunde sagten mir im Vertrauen, daß dort über mich Gericht gehalten werden solle, doch das hielt mich von der Erfüllung meiner Pflichten nicht ab. Meine letzte Tätigkeit war die Entscheidung in der Sache eines gewissen Adel, der in seiner Tätigkeit als Kontrollfunktionär ein Mädchen aus dem 12. Jahrhundert mitnahm, das er auf freiem Felde geraubt hatte – er überfiel sie vor den Augen der Menge und zerrte sie am hellichten Tage auf sein Chronozykel. Man hielt sie für heilig und betrachtete die Entführung als »Himmelfahrt«. Ich hätte ihn

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