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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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überlegte noch immer, wie diese Nutten ihre Schuhe nannten, als er Robin den Kopf heben sah. Tränenverschmiert war sein Gesicht, und wie ein Stromstoß ließ das Schluchzen seinen Körper zucken.
    Sei vorsichtig, Robbi, bleib liegen. Laß alles, wie es ist, sonst fangen sie wieder an. Robbi, paß auf. Als er sich auf die Seite rollte, konnte er die Beine sehen, die zu diesen Schuhen gehörten, schwarze Beine, denn die Frau trug dunkle Strümpfe und sah wie eine Witwe aus oder wie die Hexe aus dem Märchenbuch.
    »Mmmh«, flüsterte Robin. »Mama –«
    Dorian richtete sich auf. Sie stand zwei Meter von ihnen entfernt und sah mit leerem Blick auf sie hinab. Sie war groß. Sie könnte ihn tragen. Sie könnte sich herunterbeugen zu ihm und ihn fortschaffen von hier. Wieder glaubte er, daß sie etwas sagte und hörte eine Stimme von irgendwoher, es gibt doofe Vögel und ganz tolle, welche willst du zuerst?
    In Afrika gibt’s bunte Raben.
    »Hörst du das?« sagte sie zu irgend jemandem, »Kinder«, und da konnte er sehen, daß sie bei ihnen stand, zwischen dem Mann mit den Locken und dem mit den Hosenträgern, denn sie war eine von denen, sie gehörte dazu. Nichts weiter, ihre Nutte war sie, ihre Komplizin, warum hatte er geglaubt, sie würde etwas anderes sagen? Schwarz war sie, schwarz und weiß, mit bleicher Haut und aufgestecktem dunklen Haar, eine Schlampe, die er wegblinzeln wollte, denn er mochte keines dieser Gesichter länger sehen, Augen, die stierten und gafften und sich aufgeilten an ihm.
    Sie gehörte dazu, mehr nicht.
    Einer sagte: »Die sind alt genug.« Es war der Kerl mit den Hosenträgern, der auf Robin zuging und ihm seine Schuhspitze unter die Nase hielt. »Kleine Diebe, Räuber, wollten sich was holen hier.« Dann trat er zu und traf Robin mitten ins Gesicht.
    »NEIN«, schrie Robin. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht. »DORIAN, DORIAN.«
    Jemand machte ein Geräusch, das sich wie ein Niesen anhörte, war es der Mann mit den Locken? Als er den Kopf hob, begegnete Dorian wieder dem Blick dieser Frau. Ihre Augen waren größer geworden, als sie ihn nun ansah, und sie wuchsen immer weiter, als kämen sie aus den Höhlen heraus. Sie öffnete die Lippen, doch konnte er nicht hören, ob sie etwas sagte. Zwei Schritte machten diese Stöckelschuhe mit ihrem harten, hellen Geräusch, dann war sie ganz nah. Würde sie treten? Das machten sie doch hier, treten, treten, paß auf, Robbi, paß auf.
    Doch sie kniete sich hin, kniete neben Robin nieder. Lange, sehr lange blickte sie auf sein Gesicht, als müßte sie all seine Wunden zählen, all seine Schmerzen ausmessen von Anbeginn an. Robin hielt still, als sie die Hand ausstreckte und langsam sein Haar zurückstrich, zögernd fast, als dürfe sie nicht. Wo blieb die Musik? Da gehörte doch Vivaldi her, zum Befummeln. Doch es blieb still. Behutsam legte sie einen Finger auf Robins Schläfe, genau dahin, wo er seine Narbe hatte, als kleines Kind war er gefallen. Dorian konnte sich noch genau erinnern, wie ihre Mutter ihnen das erklärt hatte; »Eine Narbe«, hatte sie gesagt, »ist etwas, das die Haut sich merkt. Dann zeigt sie ihr ganzes Leben lang, wo ihr etwas weh getan hat.«
    Diese Frau hier ließ ihren Finger auf Robins Narbe liegen, und obwohl Dorian sie selber nicht spürte, kam es ihm vor, als sei ihre Berührung leicht und kühl. Sie bewegte die Lippen, doch keiner hörte, was sie sagte, sie formte Worte, die niemand verstand. Was wollte sie von ihm? Laß ihn los, wollte Dorian schreien, das ist mein Bruder, laß ihn in Ruhe, du Schlampe, jetzt ist genug. Doch etwas in ihm schien ihn stumm zu machen für alle Zeit, und er wünschte sich eine Pistole und einen Schlagstock, mit dem er das Böse hier vertreiben könnte. Die Frau ließ seinen Bruder nicht in Ruhe. Sie guckte ihn so lange an, bis Robin sich verkrampfte, bis er den Kopf wegdrehte und die Augen schloß, dann stand sie auf. Sie schwankte. Sie machte ein paar unbeholfene Schritte und drehte sich ziellos im Raum.
    »Geh«, sagte der Mann mit den Locken. Er hatte sich verändert, sah plötzlich aus, als ob er fror, und da fiel Dorian ein, an wen der ihn die ganze Zeit erinnerte, an Kemper. Ja, als Kinder waren sie bei so einem Mann gewesen, einem mit Locken, der immer Bengelchen zu ihm sagte und dessen Wohnung sie wie Flüchtlinge verlassen mußten. So sah er aus, wie Steffen, wie Kemper. Er packte die Frau an ihrem schwarzen Kleid und stieß sie zur Tür. »Geh, geh, geh«, sagte er so

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