Sterntaucher
sich in Vernehmungen die Zähne aus. Sie legte einen Geldschein auf den Tresen und sah Frau Hufnagels gelbe Fingerspitzen, als sie ihn nahm.
»Was macht eigentlich ihr Mann?« fragte Ina. »Hilft er Ihnen nicht?«
»Er trinkt und fällt um«, sagte sie ruhig. »Ich trinke auch, aber ich bleib stehen.«
»Ah so.« Ina räusperte sich. »Hat Dorian mit Ihnen drüber gesprochen, daß er hier, ehm –«
»Ja, er möchte renovieren und übernehmen.«
»Lassen Sie ihn?«
»Mein Mann ist der Pächter.«
»Sie haben Angst vor ihm.« Ina sah nur den Zigarettenrauch vor Billa Hufnagels Augen.
»Vor meinem Mann?« Leichter Spott lag in dieser Frage.
»Vor Dorian.«
»Nein.« Frau Hufnagel drückte ihre Zigarette aus und legte die Hände flach auf den Tresen. Rauh und rissig waren diese Hände, und sie zitterten leicht. »Dorian war nicht immer so, er war ein ganz normaler Gast. Er hat in Ruhe sein Bier getrunken. Er hat mit anderen Gästen Karten gespielt und ab und zu hat er geholfen, das hab ich ihm auch bezahlt. Manchmal hat er Freundinnen mitgebracht, aber denen gefiel es hier nicht. Manchmal hat er auch Musik gemacht. Und er war am achten hier.« Sie sah nicht hoch bei diesen Worten, deren monotoner Rhythmus den Anschein erweckte, sie habe sie auswendig gelernt. »Aber jetzt ist sein Bruder tot.«
»Ja.« Ina drehte den Kopf und sah Kissel noch immer auf Dorian einreden, doch der schien längst woanders zu sein. »Welche Musik hat er gemacht?«
»Gitarre.«
»Ja klar, ich meine, was hat er gespielt?«
Frau Hufnagel zuckte mit den Schultern. »Schnulzen.«
»Auch Lieder seiner Mutter?«
»Kann sein.« Sie goß etwas Cognac in ein viel zu großes Glas, schnupperte daran und schloß die Augen. »Es hat ihm niemand zugehört.«
Holen, vorführen, ausquetschen, hatte Kissel im Wagen gesagt, »wir schicken ihm eine ordnungsgemäße Vorladung und machen ihn alle.«
Und dann?
»Dann verrät er uns vielleicht, wo seine Mami steckt. Oder welche merkwürdige Störung er hat, der ist doch bekloppt.«
Irre, bekloppt, Worte, die in ihr widerhallten und wie ein Stromstoß durch den Körper gingen, weil sie mit ihnen jene Nacht verband, in der sie schwarze Schatten sah. Ina setzte Kissel vor dem Präsidium ab und fuhr zurück. Sie wußte nicht genau, warum, vielleicht weil Tommy Nachtschicht hatte und sie zu Hause nicht allein sein wollte, allein mit diesem Video, auf dem die junge Katja Kammer ihr das Leben erklärte und den Rausch. Allein mit den Worten Belloffs, dann hat sie auch bloß noch geschrien und gebettelt. Allein mit diesen Bildern, Mama, Mama.
Doch bei Dorian brannte kein Licht. Sie blieb eine Weile sitzen, und als sie ihn die Straße entlangkommen sah, stieg sie aus. Laß uns reden, Junge, du bist doch okay. Sie mußte das loswerden, denn wenn sich das bei der Mordkommission noch länger hinzog, würde sie unzähligen Irren noch begegnen, wirklichen Irren, in deren Augen die Hölle lag, so ein Inferno aus Angst und aus Haß. Dorian hatte solche Augen nicht. »Jetzt ist sein Bruder tot«, hatte die Wirtin gesagt, einfache Worte, die alles erklärten.
Er ging nicht nach Hause. Vier, fünf Meter von ihr entfernt, schloß er einen klapprigen Golf auf und fuhr los.
Sie versuchte so weit wie möglich hinter ihm zu bleiben, weil er den dunklen Vectra sicher kannte. Sie drehte die Musik ab und schaltete das Handy aus, alle Sinne auf den Golf gerichtet und darauf, wohin er vielleicht fuhr. Was hatte Kissel gesagt? »Dann verrät er uns vielleicht, wo seine Mami steckt.« Ja, murmelte sie, fahr mich hin, egal, wo es ist. Ein Hochhaus vielleicht, so ein Kasten am Ende der Stadt, in dem man sich verstecken konnte? Fahr schneller, fahr mich hin zu ihr.
Am Riederwald bog er in eine Seitenstraße ein. Er parkte den Golf vor einer Schranke und ging los, ging durch Morast und über unbepflanzte Wege und an Bänken vorbei, auf denen seit Jahren niemand mehr saß. Nirgends ein Haus, hier wohnte kein Mensch. Totes Gelände war es, das menschenscheuen Joggern Auslauf bot oder bösen, häßlichen Hunden. Es war die Gegend, die ihnen Oliver Thiele beschrieb, der Schuppen hinter den Kleingärten, das Folterhaus. Doch das gab es nicht mehr, und die Kleingärten lagen brach, hier war nichts außer morschen Bäumen und mickrigen Sträuchern, in denen ein paar schlaflose Vögel raunten.
Sie blieben gleichzeitig stehen, Dorian mitten auf dem Weg und Ina hinter den Sträuchern. Er legte den Kopf in den Nacken, als suche er
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