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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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auf die Beine, das wurde einem eingebleut, doch nahm er die Hand nicht weg, hatte sie noch immer halb in der Tasche.
    Fenster öffneten sich, sie sah es aus den Augenwinkeln. Sie hörte jaulende Bremsen, und ein weiteres Kind fing an zu schreien. Kissel kam wieder heran, während der Kerl ihr starr in die Augen sah und wie ein Kunstschütze, falls es das gab in dieser Kategorie, auf den Lauf ihrer Waffe spuckte.
    »Schön«, sagte sie. »Komm hoch, los. Hände ruhig halten.«
    Anscheinend wollte er seine Show. Als Kissel mit dem Unterarm seinen Hals umklammerte, fing er an zu japsen wie ein zappelnder Fisch an einem ölverseuchten Strand. Knallcharge.
    »Hände in den Nacken«, sagte sie, als er langsam auf die Füße kam. Sie erwartete eine weitere Ladung Spucke, weil er sie unverwandt ansah, doch was kam, war nur sein erster Satz, den er mit so ruhiger Stimme sprach, als fragte er gerade nach dem Weg: »Das ist mir zu blöd.«
    »Macht nichts«, sagte sie, und ihre Worte wurden übertönt von Kissels Gebrüll: »LOS JETZT, MACH, STELL DICH HIN.«
    Ina steckte ihre Waffe weg, während an einem Erdgeschoßfenster ein Mann theatralisch beide Hände hob.
    »Arsch«, flüsterte sie.
    Der Festgenommene fühlte sich angesprochen und sagte: »Ich beschwere mich.«
    »Sicher«, sagte sie, »können Sie tun.«
    Keine Schußwaffe in seinem Jackett, nur ein kleines Taschenmesser von der Sorte, mit der Kerle sich in Hauseingängen schnell die Fingernägel reinigen konnten. Taten die so was? Sie tastete ihn ab, während Kissel ihn umklammert hielt; drei Packungen Papiertaschentücher, eine Tüte Sahnebonbons und eine Brieftasche mit Führerschein. Ja, es war der Mann aus Lipperts PC, Oliver Thiele. Sie tastete an seinen Beinen entlang; »Ui«, sagte er, »holla.« Als sie seine Hosentaschen erreichte, fing er an zu murmeln. Sie holte drei Cracksteine heraus und sagte: »Sie haben ja noch mehr zu naschen.«
    »Das gehört nicht mir«, sagte er schnell.
    »Nein, bringt das Sandmännchen, ich weiß.« Die ganze Zeit fürchtete sie, er würde sie wieder anspucken; sie wußte nicht, was sie dann tun sollte. Er sah zu ihr hin, als hätte er eine Fliege vor sich, die er mit einer Zeitung zerquetschen würde, sobald sie nur zur Ruhe kam. Übel sah er nicht aus, zu ölig halt, zu schön – nein, er glaubte, daß er schön war, das war das Problem. Er war jünger als Lippert, jünger auch als die Kammer, und sie unterdrückte den Impuls, ihn hier und jetzt schon zu fragen, ob er sie kannte und ob er wußte, wo sie war.
    »Mein Guter«, sagte Kissel. »Das war’s dann fürs erste.« Der Mann ging mit Würde. Kissel hatte ihm die Arme auf den Rücken gedreht, doch schritt er dahin wie ein kleiner Herrscher, dem die Ehrengarde salutiert. Ein paar Meter nur bis zum Wagen, Schaulaufen. Eine Frau rief, daß es eine Schande wär, hier auf der Straße mit der Pistole zu fuchteln, hier vor Kindern, ein alter Mann forderte Ina auf, alle zu erschießen. Doch sie sagte nichts. Sie redete nie mit Umstehenden, wenn es sich vermeiden ließ und man sie nicht als Zeugen brauchte, sie sah sie auch nicht an. Sie ging durch Gaffermengen wie durch Fluten, die sich teilten.
    Sie roch Thieles Parfüm, etwas mit Zeder, was sie verabscheute, was aber dennoch zu ihm paßte wie Old Spice zu einem Finanzbeamten. Hatte Lippert nach Old Spice gerochen? Nein, nur nach Tod. Vor ihren Augen Thieles Schultern, schwarzer Stoff, der sich plötzlich hob, als zerrten unsichtbare Finger daran. Es dauerte einen Moment, bis sie registrierte, daß etwas nicht in Ordnung war, weil diese Schulter aus den Fugen geriet und dieser Kerl wieder abheben wollte, zum Flug ansetzte und sich aus Kissels Griff befreite. Doch er stürzte ab, bevor sie richtig begriff, was geschah. Thieles Schulter verschwand, als sie nach ihr greifen wollte, und sekundenlang sah sie nur Kissels Hand in der Luft hängen wie eine sonderbare Skulptur. Mit einem leisen Stöhnen sackte Thiele an Kissel herunter und blieb reglos auf dem Pflaster liegen. Ein Arm war ausgestreckt, der zweite lag auf seiner Brust.
    »Ja, was soll das jetzt?« rief Kissel. »Will sich losreißen –«
    »Nein, der hat –«, fing sie an, doch Kissel schrie: »Ach, leck mich«, und sie registrierte, daß er das vor allen Leuten tat. Sie beugte sich über den Mann, um sie herum nur Lärm. Kissels Stimme, der am Handy nach einem Krankenwagen schrie, Stimmen aus der Gaffermenge: »Jetzt hams ihn erschossen.«
    »Aber wie denn? Die

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